Mit „Systeme als Strukturmerkmal im Prosawerk von Hartmut Lange“ arbeite ich seit anderthalb Jahren an meiner Dissertation über einen Autor, dessen Novellen und Erzählungen mich seit Jahren begleiten. Zur Analyse nutze ich Luhmanns Systemtheorie als Literaturwissenschaft, die ich hier im LesenMitLinks-Blog Stück für Stück vorstelle, als wissenschaftliche Ergänzung zum unterhaltenden Rezensorium, zum wöchentlichen Linkradar und dem Diskursarchiv von 1999ff. Den Anfang macht Dominic Berlemanns Aufsatz über das Phänomen der „Zweitcodierung“, 2011 erschienen im Sammelband „Systemtheoretische Literaturwissenschaft“ (hier gibt es einen Blick ins Buch).
Schon kommen die ersten Vor-Vorschauen fürs Herbstprogramm ins E-Mail-Postfach. Dabei ist die Frühjahrsproduktion nicht einmal im Promillebereich abgearbeitet. Es wird so viel geschrieben, angekündigt, veröffentlicht, zur Debatte gestellt, dass jeder enzyklopädisch ordnende Mensch an seine Grenzen kommt. Dazu gibt es Metatextproduktionen, wie diesen LesenMitLinks-Blog, aber auch klassische Zeitungsfeuilletons, Wissenschaftsaufsätze, Amazon-Bewertungen, Lektürehilfen und geisteswissenschaftliche Seminare, Texte ohne Texte en masse, die mit jedem Versuch der Ein- umso mehr Unordnung schaffen.
„Auch Christoph Martin Wieland, wohl situierter Erfolgsschriftsteller und Initiator des gleichermaßen langlebigen Teutschen Merkur, bedauert im Jahr 1777 gegenüber den Lesern seines literaturkritischen Blattes, die schiere ‚Menge der elenden, impertinenten, hirnlosen, pasquillantischen, nonsensikalischen, und die Narrheit ihrer Verfasser in allen möglichen Gestalten schautragender Büchlein‘ nehme ‚so überhand, daß es einem Manne von Verstande eckeln muß, sich die Hände mit diesen Unrat zu beschwitzen.‘“ (456)
Dominic Bergemann beschäftigt sich nun in seinem Aufsatz für das De Gruyter-Lexikon „Systemtheoretische Literaturwissenschaft“ mit dem Phänomen der Zweitcodierung, die es ermöglicht, besagter Bücherschwemme Herr zu werden. Doch warum Zweit-Codierung? Was wäre denn die Erst-Codierung? Hier ist man mittendrin im systemtheoretischen Bezeichnungskosmos. – Ein Kuriosum der Luhmannschen Betrachtungsweise ist (bekanntlich), dass funktional ausdifferenzierte Teilsysteme einer Gesellschaft ihre Umwelt unter einem binären Code beobachten. Knapp gesagt: Das Medizinsystem (System der Krankenbehandlung) ist ein Teilsystem der funktional differenzierten Gesellschaft. „Der Arzt kommt ins Spiel, wenn der Mensch nicht mehr problemlos als organische oder psychische Grundlage der Kommunikation dienen kann. (…) Die Funktion der Krankenbehandlung wird auf der Basis der Orientierung am Code krank/gesund erfüllt. Die Unterscheidung krank/gesund strukturiert den Kommunikationsbereich zwischen Ärzten und Patienten, sie ermöglicht eine Funktion, die in der Gesellschaft nirgendwo sonst erfüllt wird (weder die Macht noch das Geld können heilen). Die Begriffe ‚gesund‘ und ‚krank‘ bezeichnen also keine besonderen physischen oder psychischen Zustände, sondern die Werte eines Codes: die Krankheit ist der positive und die Gesundheit der negative Wert.“ (115/116)
Dem Arzt ist, schlicht und verkürzt gesagt, egal, ob der Patient schön/hässlich, reich/arm oder talentiert/untalentiert ist. Ihn interessiert in seiner Funktion als Krankenbehandelnder lediglich, ob der Patient gesund/krank ist bzw. das System der Medizin beobachtet seine Umwelt allein unter dem binären Code krank/gesund. Überlegungen zur finanziellen Ausstattung des Patienten gehören nicht zum System der Krankenbehandlung, sondern zu dem der Wirtschaft. Das System der Wissenschaft bedient sich „des mit einer ungeheuren Reichweite ausgestatteten Zentralcodes wahr/falsch“ (456). GLU zitierend besteht die gesellschaftliche Funktion der Wissenschaft „in dem Aufbau und in dem Gewinn neuer Erkenntnisse“ (GLU 211). Was nicht als neue Erkenntnis bezeichnet werden kann ist für die wissenschaftliche Kommunikation irrelevant. Doch sekündlich tauchen neue und wahre Erkenntnisse auf, weshalb die Textflut nicht mehr allein anhand des binären Codes sortiert werden kann.
Deshalb bedient sich das wissenschaftliche System einer Zweitcodierung: der Reputation. „In diesem Sinne werden die Namen der Wissenschaftler zu kommunikativen Zurechnungsadressen, die stellvertretend für die Gesamtheit der von diesem Forscher aufgestellten Modelle, Theorien usw. sowie deren wahrgenommenem Gehalt stehen. Wahre wie falsche Aussagen können in diesem Kontext gleichermaßen das soziale Ansehen des Urhebers einer wissenschaftlichen Publikation und damit deren zukünftige Erfolgschancen beeinflussen, d.h. der Nebencode ist beidseitig an den wissenschaftlichen Zentralcode anschließbar.“ (457)
Die Reputation steuert also, welchen wissenschaftlichen Kommunikationen Anschlußfähigkeit zugestanden wird. „Im Idealfall gelingt es dem Reputationsinhaber nach und nach stabile Erwartungsstrukturen auf sich zu vereinigen, die ihm im kommunikativen Raum als verlässlichen Produzenten wissenschaftlicher Wahrheiten erscheinen lassen.“ (457) Diese Reputation kann sinken: durch eine zu hohe Anzahl falscher Aussagen. Sie kann steigen: wenn Saison für Saison richtige Aussagen einem Namen zugeordnet werden können.
Das ist, kleiner Nebenexkurs, natürlich ein sehr romantisches Bild der Wissenschaft, gerade unter Berücksichtigung der gegenwärtigen, von der Zeit angestoßenen Debatte über Kungelei im Betrieb. Jürgen Overhoff von der Universität Münster schreibt, mit Blick auch auf diesen Text: „Tatsächlich wird ein geisteswissenschaftliches Fach, das man im Englischen auch als profession bezeichnet, in Deutschland von seinen wichtigsten Vertretern noch immer mit Vorliebe als „Zunft“ verstanden. Zunftmeister aber gewähren niemandem Zutritt zu ihrem Kreis, wenn er sich nicht zuvor bei ihnen und nach ihren Regeln angedient hat. Das gilt nicht nur für Bewerber aus dem Ausland, sondern auch für Außenseiter oder Querdenker im Inland, die neue Forschungsansätze abseits des Mainstreams erproben wollen.“ In Deutschland ist der Diskurs im geisteswissenschaftliche Bereich eher unerwünscht, so die Beobachtung Overhoffs, der an amerikanischen Eliteuniversitäten gelehrt hat und dessen Rückkehr nach Deutschland sehr schwierig gewesen ist.
Dergleichen wird bei Luhmann nicht bedacht – vielleicht sah die deutsche Forschungslandschaft vor 30 Jahren etwas kommoder aus. Zugleich arbeitet die Systemtheorie (wie jede Theorie) mit Strategien der Komplexitätsreduktion. Man kann zwar immer wieder betonen, dass binäre Codes beispielsweise für Moral blind seinen, aber welche Sperren sollte eine rein beobachtende Theorie bereitstellen. Das Wesen der Komplexitätsreduktion ist es, dass sie von Unübersichtlichkeit auf Selektion scharf stellt. Die Systemtheorie hat zwar den Anspruch, eine „Supertheorie“ zu sein, doch bedeutet dies lediglich, dass sie universal anwendbar ist – jedoch nicht, dass sie alle Erscheinungen dieser Welt in geradezu Gott imitierender Weise zugleich beobachten kann.
Der Clou an Dominic Berlemanns Aufsatz über Reputation ist nun, dass er dieses Phänomen von der Wissenschaft auf die Literatur überträgt. Für das System der Kunst hat Niklas Lumann die Unterscheidung schön/häßlich vorgeschlagen, was seit seinem Aufsatz über „Das Kunstwerk und die Reproduktion der Kunst“ im Jahr 1986 vielfach diskutiert worden ist. Bergemann geht auf Hans Ulrich Gumbrechts ‚Pathologien des Literatursystems‘ ein, wenn er ihn mit den Worten paraphrasiert: „Gerade die moderne Kunst zeige ein Faible für Unschönes, z.B. Armut, Krieg, Prostitution oder körperlichen Verfall. Überdies handele es sich bei dieser Disjunktion um eine von Künstlern und Schriftstellern selbst kaum verwendete ästhetische Unterscheidung, die man der Philosophie und damit dem Wissenschaftssystem zuschlagen müsse.“ (458)
Berlemann weist darauf hin, dass sich die Leitdifferenz interessant/langweilig durchgesetzt oder, schöner ausgedrückt „also besonders resonanz- und anschlussfähig“ (458) erwiesen hat. Der Vorschlag stammt von Gerhard Plumpe und Niels Werber (Letzterer ist Herausgeber des vorliegenden Lexikon, Ersterem ist es gewidmet). Sie haben diesen Codierungsvorschlag ausgearbeitet im Rahmen ihres „Bochumer Modells“ der systemtheoretischen Literaturwissenschaft (Plumpe ist ebenda Emeritus der Deutschen Philologie, Werber inzwischen Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft in Siegen). Interessant/langweilig steht hier für eine Differenz, „mittels derer sich bislang verschmähte Stoffe und Motive jenseits des Wahren, Schönen und Guten erschließen lassen.“ (458) Allerdings weist Berlemann darauf hin, dass diese Unterscheidung das Grundproblem nicht lösen kann, nämlich: wie begegne ich einer unmöglich zu ordnenden Textschwemme? Einerseits gibt es zu viele Texte, die „interessant“ sind, für welches psychische System auch immer.
Gleichzeitig ist „interessant“ sowohl in den „Wertungs- und Kanonforschung“ (459) absent und wird zudem eher synonym zu überrascht verwendet. (Dr. House aus der gleichnamigen Serie ist ein Sonderfall, der einen Krankheitsfall als interessant im Sinne von „beobachtungswert“ bewerten muss, damit er sich ihm widmet). „Entsprechend werden in Wörterbüchern, die aus dem Zeitraum von 1840 bis 1977 stammen, vornehmlich Adjektive wie ‚fesselnd‘ oder anziehend als Synonyme für ‚interessant‘ angegeben, die sich insofern mit den Beobachtungen der Ästhetik decken, als sie primär auf die Erregung temporärer psychischer Aufmerksamkeit abheben, die vom symbolisch generalisierten Kommunikationsmedium des literarischen Werkes ausgeht, während klar wertende Synonyme in den genannten Wörterbüchern nur eine ganz untergeordnete Rolle spielen.“ (459)
Deshalb verwendet auch das System der Literatur, quasi in Anlehnung an die Wissenschaft, eine Zweitcodierung, die Berlemann irritierenderweise als „Nebencode“ bezeichnet, obschon Zweitcodierung bis zu dem Augenblick eher als der Leitdifferenz nachrangig beschrieben wurde. Von Berlemann nun referierte Unterscheidungen sind „(literarisch) wertvoll/wertlos“, ebenso „originell/epigonal, geglückt/missglückt, geschmackvoll/geschmacklos, stimmig/unstimmig usw (…) von denen die beiden letztgenannten bezeichnenderweise bereits als aussichtsreiche Kandidaten für die Leitdifferenz des Literatursystems gehandelt wurden.“ (460) Dass gute Literatur für den gemeinen Leser ebenso wie für die Literaturkritik interessant zu sein habe arbeitet Berlemann aus, wenn er Nicolai, Wieland und Schlegel hinzuzieht (460), und die Verbindung schon der frühen Literaturkritik „zur Unterhaltungsfunktion des umgebenden Literatursystems“ (460/461) herausarbeitet.
Daran anschließend erläutert Berlemann auch, wieso die beiden Codewerte interessant/langweilig und (literarisch) wertvoll/wertlos eben nicht in einem Hierarchieverhältnis zueinander stehen, „sondern [in] dem der Zirkularität, was sich vor allem darin manifestiert, dass sich bei regelmäßigem Aufrufen der positiven Codewerte zwischen den Dualen interessant/langweilig und wertvoll/wertlos über längere Zeiträume hinweg eine relativ stabile, sich selbst verstärkende Kreisstruktur herausbilden kann, die dem betreffenden Werk einen Platz im ständig mitlaufenden literarischen Gedächtnis beschert, solange diese auf Wiederverwendung gemünzte Kreisstruktur erhalten bleibt.“ (461) Anhand eines Werkes der Luftkriegsliteratur („Vergeltung“ von Gert Ledig) zeigt Berlemann, in welcher Weise die „Beachtung bzw. Nichtbeachtung durch die Instanz der Literaturkritik (…) eine zweite, nicht-codebasierte Hürde auf dem Weg zum Parnass“ (463) darstellt – „Vergeltung“ scheiterte dann an der Codierung (literarisch) wertvoll/wertlos, mit einigen harten Verrissen, die kaum ein gutes Haar an dem Roman ließen.
„Unter diesen Umständen konnte sich natürlich keine solide Kreisstruktur im oben beschriebenen Sinne ausbilden. Werk und Autor gerieten daher bald in Vergessenheit, auch wenn es vereinzelt in allerdings eher randständigen Presseorganen durchaus auch Lob gab.“ (465) Erst in der von W. G. Sebald losgetretenen Debatte „um die Stellung des Luftkrieges in der deutschen Literatur war es dann allen voran Volker Hage zu verdanken, dass Vergeltung kurz vor der Jahrtausendwende erneut in den Blickpunkt der literarischen Öffentlichkeit gelangte. (…) Damit fand Ledigs Roman also auch beim zweiten Anlauf die notwendige literaturkritische Beachtung und aktualisierte überdies von Neuem den positiven Wert des Zentralcodes der Literatur. (…) Was sich verändert hatte, war (…) die Art und Weise der Programmierung der Zweitcodierung, die einer fast vollständigen Umwertung der ursprünglich angesetzten ästhetischen Norman und Werte gleichkommt.“ (465/466) – Gert Ledig starb kurz vor seiner Renaissance und musste annehmen, man habe ihn und sein Werk vergessen – tatsächlich gehört er inzwischen zu den modernen Klassikern, aufgenommen in die „Suhrkamp BasisBibliothek – Arbeitstexte für Schule und Studium“.
Gert Ledig: „Vergeltung“ (Text und Kommentar), Suhrkamp, 234 Seiten, 8,50 Euro
[…] im Anspruch stark auseinanderstrebende Texte zu den Wanderhuren und zu Niels Werbers Lexikon der Literaturwissenschaftlichen Systemtheorie. Da ich gerade in Zeeland schreibe gibt es neue Bilder im LesenMitLinks-Tumblr. Mit Max von Malotki […]