Martina Hefter und Jürgen Becker – zwei der interessantesten Lyrik schreibenden Menschen, kommen mit neuen Veröffentlichungen, die eine offenherzige Zärtlichkeit ausstrahlen. Die jüngst mit dem Großen Preis des Deutschen Literaturfonds ausgezeichnete Hefter streicht den Kapitalismus aus dem Begehren und Jürgen Becker, Büchnerpreisträger des Jahres 2014, zwingt die Einsamkeit ins poetische Stillleben.
Benu kommt übers Social-Media-Profil zu Juno Isabella Flock. Die fünfzigjährige Tänzerin wohnt mit ihrem MS-erkrankten Gatten Jupiter in einer kleinen Leipziger Wohnung. In den Abendstunden führt sie aus Neugier und Langeweile Fake-Dialoge mit unbekannten Love-Scammern: „Mittlerweile ging es anscheinend nicht mehr nur um Geld. Beliebt waren Aufenthaltsgenehmigungen. Man konnte einen Scammer einladen. Man konnte ihn heiraten. Man konnte einen Scammer einfliegen lassen.“ Die Chats der Love-Scammer sind ein Spiel mit dem Feuer, sie bergen eine Möglichkeit des Betrugs, gefährlich für jene Frauen, die aufs vorgespiegelte Liebeswerben reinfallen, sich ausnehmen lassen aufgrund einer lediglich vorgespiegelten Zuneigung. Doch Juno lässt sich nicht betrügen, Jupiter wird ebensowenig hinters Licht geführt – bis sich besagter Benu aus Nigeria meldet und echtes Interesse an Leben und Wesen der für ihn fremden deutschen Frau entwickelt. Diese Chat-History ist keine Neuauflage von Daniel Glattauers E-Mail-Roman „Gut gegen Nordwind“, ebensowenig allerneute Leiden eines jungen (weiblichen) Werther. „Hey guten Morgen, wie geht es dir?“ kommt als poetische Reflexion über Abhängigkeiten („Eigentlich musste sie Benu einen Anteil bezahlen, falls sie später mal etwas an diesem Text verdienen sollte“), über Wahrheit, Kapitalismus und Begehren in einsamer gewordenen Post-Corona-Zeiten. Das „Material Girl“ Madonna auf der einen und vorm Fenster schwirrende, keinen Ertrag bringenden Wildbienen auf der anderen Seite bilden den Horizont dieser faszinierenden, geradezu tänzelnden Story. Martina Hefters Buch zeigt: echte Liebe kann sich als Caritas zeigen, obwohl unsere Gesellschaft an jedes Gefühl irgendein Preisschild hängt. Dieser Roman ist ein zärtlicher Aufstand gegen falsch verstandenen Utilitarismus, eine melancholische Love Affair, eine wachsame Annahme menschlichem Leids – und einer der heißesten Kandidaten, mindestens für die Shortlist des Deutschen Buchpreises. Martina Hefter: „Hey guten Morgen, wie geht es dir?“, Klett-Cotta, 224 Seiten, 22 Euro
Again, again
Eine „Nachspielzeit“ gönnt sich der 92-jährige Jürgen Becker – und den neugierig gebliebenen Fans, die er mit „Sätzen und Gedichten“ durch sein Köln von 2022/23 einlädt – ein Jahr, nachdem seine Lebensgefährtin, die Malerin Rango Bohne verstarb: „Die Nachbarin ruft an, sie will mir / ein paar Waffeln bringen, fünf Minuten später / steht sie vor der Tür, und ich bedanke mich mit / einem Gläschen Quittenmarmelade, von meiner Frau noch / im vorigen Sommer.“ Der Mann verbringt seine Zeit, die bleibt, erlebt die „Neue Sachlichkeit“ des Tages und fühlt sich nachts als Surrealist, während die Gegenwart, die Jürgen Becker seit Jahrzehnten mitschreibt, weitergeht: die streikenden Piloten, die Empfehlungen des Energieversorgers Rheinenergie, „98 Mann Marine ziehen die Lafette mit dem Sarg / der Queen“. Alltagsbilder bergen die Vergänglichkeit: „Die Schiffe fahren mit halber Fracht“, „Von gestern die weißen Rosen, sie welken schon“, „Nun auch im Feuerzeug kein Gas mehr.“ Der Mann spricht seine Leser an, zeigt ihnen mit einfachen Worten die kleine Welt, weiterhin neugierig, niemals resigniert, denn: „Sicher ist, die Windrichtung kannst du nicht ändern / und auch nicht die Farbe deiner Augen.“ Es ist die Zeit des Erinnerns, an den Vater, der die Aristokratie vermisste, der mit der Zunge schnalzte, wenn er dem Heranwachsenden die Vokabeln abhörte. „als Russisch drankam, / hob er die Hände, nix davon wollte er wissen …“, der ihm das Kursbuch-Lesen beibrachte, „wo Personenzug / auf Schnellzug wartet zwischen Bitterfeld und Bukarest.“ Es ist immer noch diese Genauigkeit des Sehens, die stille Beobachtung des eigenen Alterns, von Arztbesuchen erzählend, dem nächtlichen Aufstehen-Müssen: „Tagsüber Notizen, sonst weiß ich abends nicht, ob / Spiegelei oder Rührei zum Frühstück.“ Ein stiller Trost, wenn das Eichhörnchen eine Nuss aus Nachbarsgarten im Blumentopf vergräbt. „Nachspielzeit“ ist kein Band des Abschiednehmens, sondern ein permanentes Weiterkicken und –kiecken, nur ein zweites Mal taucht seine Frau auf, die Einsamkeit wird ins Stillleben gezwungen: „Hier sind die zwei Hälften des Apfels. / Die eine liegt auf deinem Platz, die andere, wo ich sitze. / Ich warte und esse dann beide.“ Jürgen Becker kann es immer noch: fühlen und mit seinem Fühlen berühren. Ein bemerkenswertes, kleines Alterswerk. Jürgen Becker: „Nachspielzeit“, Suhrkamp, 106 Seiten, 24 Euro