Die schönsten Blüten wachsen inmitten der Dornen: Amir Gudarzis „Das Ende ist nah“, gerade ausgezeichnet mit dem Hermann-Hesse-Förderpreis und Grit Krügers „Tunnel“ zeigen das Lückenleben im gesellschaftlichen Abseits – ohne Geld, aber mit Ausdrucks- und Ausbruchschancen.

In Österreich hat A. permanent Hunger, der wortgewandte 23-jährige TV- und Theaterautor aus dem Iran, der 2009 vor dem Starrsinn, der Folter seiner islamistisch geprägten Heimat geflohen ist: „Seit Tagen ist ein gekochtes Ei alles, was ich am Tag esse.“ Doch er hungert nicht nur nach Essen, sondern auch nach Sinn, Liebe, Anerkennung, seinem gesellschaftlichen Platz. Gudarzi ist wie sein Held aus Teheran gekommen und – das unterscheidet die beiden – auch angekommen: als bepreister Theaterautor, Schriftsteller (und seit 2017 österreichischer Staatsbürger). Sein Debütroman erzählt entlang des ersten europäischen Jahrs von Flüchtlingsasylen, Bürgerzentren, abgewrackten WGs und einer dysfunktionalen Liaison mit Sarah, einer warmherzigen, leidensfähigen Wiener Doktorandin, die sogar eines der Theaterstücke aus dem Persischen übersetzt, auf ungeteilte Aufmerksamkeit hoffend. Doch A. ist in der gewaltvollen, immer wieder erzählten Vergangenheit gefangen. Er ist gleichzeitig um seine Zukunft besorgt und der Gegenwart entfremdet: ein begierig Deutsch lernender Poet, der keine vermittelnden Begriffe für das Neue findet, der depressiv ist, ortlos, als Hilfsarbeiter ausgebeutet, gedemütigt. Er wird vom Amtsarzt geimpft. „Gegen was ich geimpft werde, weiß ich nicht. Ich kann es nicht lesen, weil alles auf Deutsch ist.“ Antworten bekommt A. nicht, Fragen sind unerwünscht. Er wird also, wie im Iran, mundtot gemacht, er, der Poet. „Hätte ich damals gewusst, dass ich nur zwei oder drei Jahre ins Gefängnis muss und danach wieder frei bin, hätte ich den Iran nie verlassen. Ich hatte Angst, es wäre schlimmer.“ Die beinahe dokumentarische, die komplexe Darstellung dieses mehrschichtigen Homo sacers, der klufttiefe Kontrast zwischen seinen und Sarahs Sehnsüchten treiben den Roman über hunderte, mühelos zu lesende Seiten. Ein echter Nachfahre des großen Rumi. Amir Gudarzi: „Das Ende ist nah“, dtv, 416 Seiten, 25 Euro

Tunnel

„3000 Euro“, so hieß 2014 Thomas Melles stilprägender Prekariatsroman. 3000 Euro will auch die alleinerziehende Mascha in Grit Krügers „Tunnel“ zusammensparen: „Genug für Öl, für ein Sommerlager für das Mädchen, für eine Privatfortbildung zur Sicherheitskraft.“ Das Amt setzt sie unter Druck, kürzt die Leistungen. Es wird kälter. Die Adventszeit steht vor der Tür. Weil ihre Wohnung ausgekühlt ist, zieht die Hilfspflegerin mit Tinka, ihrer naseweisen, siebenjährigen Tochter ins Seniorenheim. Mit von der Partie: ihr ebenfalls gestrauchelter Hartz IV-Lover. „Was das Amt mit einem macht. Früher einmal hat er sich nach den Terminen den Mund auswaschen müssen – Strohrum, Weinbrand, Hauptsache schnell und mit Biss – um den Geschmack des Flehens und Schimpfens wieder loszuwerden.“ Dem besorgten Gesellschafts-Chor gefällt dieser Plot überhaupt nicht: „Das kann doch nicht gut für ein Kind sein, / die Kleine, schon wieder allein. / Das kann doch nicht gut für ein Kind sein – das geht nicht. Wir schalten wen ein.“ Dass Mascha ihrer Tochter die Hausaufgaben, manchmal den Schulbesuch ausredet, dass sie ihr den Vater vorenthält, ist möglicherweise ihrer Überforderung geschuldet. „’Und der Papa, wo ist der?’ – ‚Brauchen wir nicht’, antwortet Tinka und wünscht sich, Mama würde sie dabei hören.“ Schon überlegt die Heimleitung finale Maßnahmen: „Ihre Tochter isst Bewohnern das Essen weg – wir haben bewusst eigene Mahlzeiten für sie bestellt. Und, nun ja, jemandem sind Ihre Fingernägel aufgefallen.“ Maschas Fingernägel sind dreckig. Nachts hilft sie Heimbewohner Tomsonov. Der alte Kauz gräbt seit geraumer Zeit heimlich jenen titelgebenden Tunnel, den er mit Bettgestellen und Möbelholz stabilisiert. Gräbt er einen Ausweg für alle Beteiligten? Dieses poetisch hochverdichtete, die Sprache selbst als Tunnel, als Fluchtchance bergende Debüt ist Magischer Sozialrealismus aus der finanzschwachen Ecke unserer nur so behaupteten Leistungsgesellschaft. Littérature engagée fürs Jetzt, eine Patchwork-Novel über Menschen, die sich abmühen – „damit auch die letzte Monatswoche noch Toast und Marmelade bringt.“ Grit Krüger: „Tunnel“, Kanon, 220 Seiten, 23 Euro

Jan Drees

Ich bin Redakteur im Literaturressort des Deutschlandfunks und moderiere den „Büchermarkt“.

Im Jahr 2000 erschien mein Debütroman „Staring at the Sun“, 2007 folgte ein überarbeiteter Remix des Buchs. Im Jahr zuvor veröffentlichte der Eichborn-Verlag „Letzte Tage, jetzt“ als Roman und Hörbuch (eingelesen von Mirjam Weichselbraun). Es folgten mehrere Club-Lesetouren (mit DJ Christian Vorbau). 2011 erschien das illustrierte Sachbuch „Kassettendeck: Soundtrack einer Generation“, 2019 der Roman „Sandbergs Liebe“ bei Secession. Ich werde vertreten von der Agentur Marcel Hartges in München.

Empfohlene Artikel