Der kurze Roman „Das Blütenstaubzimmer“ bescherte Zoë Jenny vor vielen Jahren einen sensationellen Debüterfolg. Die 1974 geborene Schweizerin gilt seitdem als Prototyp des schriftstellernden „Fräuleinwunders“. Jetzt erscheint ihr neues Buch „Das Porträt“. (Das Beitragsbild aus dem Autorenarchiv von Susanne Schleyer).
Der mysteriöse Großindustrielle R. heuert die junge Malerin Helen an. Sie soll exakt drei Monate lang im abgelegenen Anwesen des alleinstehenden, gesundheitlich siechenden Mäzens wohnen und sein Portrait anfertigen. Kontakt nach draußen wird Helen ausdrücklich untersagt, sie muss sich auf ihre Arbeit konzentrieren. Seltsame Forderungen. Aber weil R. reichlich Kohle auf den Tisch legt, tritt Helen in den goldenen Käfig ein. Ihr droht Gefahr. Die Totenmasken in der Empfangshalle hätten sie von Beginn an stutzig werden lassen müssen. Helen hat mit ihrer Anreise eine gefährliche Grenze überschritten, aus dem geordneten Alltagsreich heraus und ins Fegefeuer hinein. Wenig später muss sie, selbstverständlich, um ihr Leben ringen. „
Wissen sie, es geht ihm gar nicht um die Bilder. In Wahrheit will er die Person, er will sich das Talent kaufen, das er selbst nie hatte. Für sich haben, verstehen Sie. Es besitzen. Der Narr!“ Das verrät R.’s Ex-Frau kurz vor Schluss. R. triezt Helen, seine isolierte Mietkünstlerin, hält ihr bornierte Vorträge über mustergültige Kunst, lässt sie beinahe im Pool ertrinken und gegen eine mächtige Gegenstromanlage ankraulen. R. fordert, Helen müsse endlich „das Letzte“ geben, sie müsse „leiden“. So schauen romantische Kunstbetrachtungen aus. Der Tod, ebenfalls ein romantisches Motiv, lauert überall. Leichen pflastern den Plot. Helens Eltern sterben früh, was durch eine binnenerzählte Kindheitsgeschichte erläutert wird. Die kleine Helen wird gemeinsam mit ihrem Bruder Gabriel von Tante Lucille erzogen – bis diese ebenfalls stirbt. Helen zeichnet in den Monaten zuvor Lucilles langsames Sterben und feiert anschließend mit den krassen, polarisierenden Bildern erste Erfolge.
Aus dem Tod zur Kunst. Das ist Décadence par excellence. Bravo! Auf den manirierten Portraits wird Lucille immer mit einem begleitenden Tier gezeigt und schon ist ein zweites Thema eingeführt. Dieser Roman kommt als Literaturzoo daher. Es gibt eingesperrte Kondore, mysteriöse Katzen, phantastische Einhörner, einen überfahrenen Fuchs usw. Das ist ein bekanntes Stilmittel, insbesondere in der Portraitmalerei. Sowas lehren wissenschaftliche Angestellte in kunsthistorischen Proseminaren. Tiere, die gemeinsam mit dem Abgebildeten auf der Leinwand zu sehen sind, symbolisieren Charaktereigenschaften, stehen zum Beispiel für Keuschheit (Einhorn) oder Macht (Löwe). Vermutlich ist das bei Zoës aktuellem Roman im selbigen Sinn gemeint.
Tatsächlich hat hier jedes Tier eine schnell zuschreibbare Bedeutung und alle nicht lebendigen Requisiten sind wenigstens Fußnoten, megaphonlaute Kommentare, Tags im Text. Oscar Wildes „Bildnis des Dorian Gray“, wo ein Portrait anstelle des Portraitierten altert, lauert keuchend an jeder Ecke. Außerdem geistert in diesem Buch der morbide Autor Joris-Karl Huysmanns rum, quasi als nichtgenannter Schatten.
Huysmans hat 1884 mit seinem Werk „Gegen alle“ (jetzt neu übersetzt bei Haffmans) die französische Décadence eingeleitet. Solche Mittel würzen „Das Portrait“ und manchmal schmeckt es stark nach NaCl mit industrieller Rieselhilfe. – Ist das Buch (auch) Selbstbeschreibung? Denn: Als empfindsame Autorin wurde sie einst ebenso gefeiert wie verdammt und die Reaktionen auf Helens erster Vernissage (im Buch) wirken wie Abschriften früherer „Blütenstaubzimmer“-Rezensionen. Das Leiden und das Morbide wurden auch mit Zoë verbunden – die bekannten Autorenfotos haben das Bild mitgeprägt. – Nur: wer mag der diabolische Förderer sein, der sich ein Talent kaufen wollte, das bei ihm nie vorhanden war? Fragen über Fragen. Man bleibt ratlos zurück, mit einem passenden Lied der bezaubernden Band Wir sind Helden auf den Lippen: „Ihr schickt meine Liebe auf die Straße, um für euch zu laufen, sie soll sich verkaufen, sie soll mit jedem mit (…) Zuhälter: halt!“
Zoë Jenny: „Das Portrait“, FVA, 204 Seiten, 20,50 Euro, Taschenbuch bei btb