Aus Berlin-Mitte kommt eine Geschichte, die vom Schreiben einer Geschichte erzählt. 125 Jahre nach der ähnlich angelegten Satire „Paludes“ von André Gide betreibt Rafael Horzon autofiktionale Schreibprozessforschung.
„Tief gekränkt verliess er das Haus … Nachdem er diese Worte in sein Notizbuch mit dem Aufdruck ‚Gedankenblitze’ gekritzelt hatte, lehnte sich Rafael Horzon zufrieden zurück. DAS ist mal ein Anfang, dachte er begeistert. Nicht nur für einen Pressetext, nein, auch für ein grösseres Werk, ein grosses Werk – ein Buch! Für ein neues Buch!“
Wer diese Zeilen liest, hat das so euphorisch beginnende Buch, dieses selbsternannte „grosse Werk“ vor sich liegen. Auf knapp 300 Seiten beschreibt Rafael Horzon, der Regal-Designer, Spülenparadies-Entrepreneur und Konzeptkünstler, wie sein Buch entstanden ist, wie seine Hauptfigur durch die Galerien-, Party-, Künstlerszene von Berlin-Mitte zieht, um Stoff aufzutreiben – kein weißes Pulver, keine Pillen, sondern den Stoff für „Das neue Buch“, denn:
„Ich kann keinen Roman schreiben, weil ich mir nichts ausdenken kann. Ich kann immer nur das aufschreiben, was mir tatsächlich passiert ist. Ich kann mein Leben nacherzählen. Oder ich kann ein Sachbuch schreiben. Aber keinen Roman. Ich habe keine Fantasie.“
Zwischen Tod und Techno, zwischen Memento mori und MDMA
Zwischen Hoffnung und Niedergeschlagenheit oszilliert diese Geschichte, die bedeutend mehr ist als das satirische Protokoll eines Party- und Schreibsommers. Horzons Erzählung ist auch die literarische Erinnerung an einen seiner besten Freunde, dessen am Ende verlorener Kampf gegen den Krebs „Das neue Buch“ auf düstere Weise grundiert. Zwischen Tod und Techno, zwischen Memento mori und MDMA entwickelt sich der Plot, während die Horzon-Figur in Begleitung seiner Freunde durch Berlin-Mitte stolpert, während er von seiner Entourage mitgeschleppt wird, damit die Leser etwas erleben können:
„Auch im Innern herrschte ein unfassbares Gedränge. Hunderte von Clowns und Schulmädchen schoben sich an riesigen Hüpfburgen und Rutschen vorbei, dazu dröhnte Musik aus den neunziger Jahren.“
Wäre diese Geschichte im selbstgefälligen Ton verfasst – kaum jemand müsste Horzons Faible für die Trickfigur SpongeBob folgen, müsste mit ihm auf hippen Vernissagen sein und Hüpfburgen betrachten. Über das Promi-Steakhaus „Grill Royal“ hat inzwischen noch die kleinste Lokalzeitung geschrieben. Dass ein Club mit Namen „Berghain“ existiert, weiß jeder, der einen Artikel über die ARD-Serie „Babylon Berlin“ gelesen hat; kaum ein Bericht kommt mit dem Vergleich zwischen dem Berghain und dem in „Babylon Berlin“ dargestellten, 1926 eröffneten „Moka Efti“ an der Ecke Leipziger Straße / Friedrichstraße aus. Die in Horzons Buch auftauchenden Künstler wie Gregor Hildebrandt sind inzwischen weltweit bekannte VIPs.
Das Meisterwerk von Bestsellerautor Rafael Horzon
Das Besondere ist, dass Horzon seine Figur als Naivling anlegt und mit staunendem Blick ins überdeterminierte Zeichenmeer Berlin-Mitte schmeißt. Seine Figur weiß nie, wo sie sich befindet, woraus die feinen Unterschiede des jeweiligen Settings bestehen. Er ist nie schlauer als noch der ahnungsloseste Leser. Das wird früh klar, wenn er beim Suhrkamp-Geschäftsführer Jonathan Landgrebe sitzt und die Idee seines neuen Buchs vorstellt – sichtlich ohne blassen Schimmer für die Bedeutsamkeit des Verlags, mit dafür umso klarer Vorstellung von der eigenen Vorzüglichkeit. Horzon verlangt einen mindestens sechsstelligen Vorschuss. Daraufhin wird er höflich daran erinnert, dass sein Debütroman „Das weiße Buch“ nie ein Bestseller war, die geforderte Summe für den Nachfolger daher illusorisch genannt werden muss:
„’Ja, aber auch nur, weil ihr meinen ursprünglichen Buchtitel abgelehnt habt.’ – ‚Wieso? Was war denn der ursprüngliche Titel?’ – ‚Das Meisterwerk von Bestsellerautor Rafael Horzon.’ – ‚Aber …’ – ‚Dann hätte nämlich in JEDER Besprechung gestanden: ‚Das Meisterwerk von Bestsellerautor Rafael Horzon’. Selbst in den Verrissen. Immer und überall hätte gestanden: ‚Das Meisterwerk von Bestsellerautor Rafael Horzon’. ‚Das Meisterwerk von Bestsellerautor Rafael Horzon’. Und das brennt sich dann ein in den Köpfen! Und so wäre das Buch auch in die Bestsellerlisten gekommen!’“
Auf dem Kraftwerk-Cover war das Zeichen cool
Ein Bestseller war „Das weiße Buch“ 2010 tatsächlich nicht – aber doch ein veritabler Feuilletonerfolg. „Das neue Buch“ schließt tonal an den Vorgänger an, ist ähnlich quietschig, albern, schillernd. Man muss keinesfalls die hier geschilderten Orte, Menschen und Situationen aus eigener Anschauung kennen, um sich von seiner hellen Freude anstecken zu lassen. Das liegt auch an der beeindruckenden Charakterstudie des sterbenden Carl Jakob Haupt, der im vergangenen Jahr gerade einmal 34-jährig dem Krebs erlegen ist.
Haupt war bekannt aufgrund seines ebenso hedonistischen wie gesellschaftskritischen Blogs „Dandy Diary“ und seiner alljährlichen Partys zu Beginn der Berliner Fashion Week. Er ist stets offensiv mit seiner Krankheit umgegangen – und hat gleichzeitig gegen die Todesfurcht gefeiert, unterhalten und geplant, als ob ein Morgen möglich sei. Als Rafael Horzon seinen Freund irgendwann ins Strahlenzentrum begleitet und dieser das internationale Warnzeichen für radioaktive Stoffe erblickt, kippt die Stimmung– für einen kurzen Augenblick:
„’Auf dem Kraftwerk-Cover war einem das Zeichen ja irgendwie immer cool vorgekommen’, sagte Jakob und zeigte auf das gelbe Warnsymbol. ’Aber hier wirkt es irgendwie … nicht so cool …’“
Ebenso bitter wie ironisch wird Jakob später von den Folgen der Krebstherapie berichten: „’Weisst du’, sagte Jakob, als er die Schnitte in der Hand hielt, die Horzon ihm hatte auspacken müssen, ‚früher, als Kind, da wollte ich am liebsten immer nur Milchschnitte essen, sonst gar nichts. Und heute kann ich eigentlich nur noch Milchschnitte essen. Alles andere krieg ich nicht mehr runter. Also esse ich jetzt eben nur noch Milchschnitte. Der Traum meiner Kindheit ist wahr geworden. Ich kann mich nicht beklagen.’“
Das ist ja schlimmer als THE SHINING!
1895 veröffentlichte der Franzose André Gide seinen kleinen Roman „Paludes“, der Horzon inspiriert haben könnte. Auch in „Paludes“ arbeitet ein naiver Schreiber an seinem Roman – und kommt nicht weiter. Er flaniert durch Paris und erzählt jedem, dass er dabei ist, Großes zu erfinden – ebenso wie Horzons Figur. Bereits 1886 schrieb der Wiener Arthur Schnitzler seine Erzählung „Er wartet auf den vazierenden Gott“, in der ein Kaffeehaus-Dichter rumrennt, nach Inspirationen sucht, aber ein Poet ohne Werk bleibt.
1947 finden wir in Albert Camus’ absurdem Roman „Die Pest“ einen Rathausangestellten, der unbedingt den größten Roman der Welt schreiben will, aber nie über den ersten Satz hinauskommt – auch hier ist die Analogie zu Horzon augenfällig. Der kreative Schreibprozesses gilt als Topos der Moderne, später auch der sogenannten Postmoderne. In diese Tradition schreibt sich Horzons „Das neue Buch“ explizit ein, spätestens wenn sein bester Freund Mollenkott geradezu fassungslos eine Manuskriptprobe durchblättert:
„Mollenkott überflog die erste Seite, dann die zweite, dann die dritte, dann blätterte er hektisch den ganzen Stapel durch. ‚Deutche Mann … Deutche Mann … Deutche Mann … Was ist das für eine Scheisse, verdammt nochmal?’, presste er fassungslos hervor. ‚Bist du irre geworden? Was soll dieser Quatsch? Das ist ja schlimmer als THE SHINING!’“
SpongeBob trifft Suhrkamp
Der Thriller von Stephen King, 1980 verfilmt mit Jack Nicholson in seiner Rolle als wahnsinnig werdender Autor – ist bis heute das bekannteste Beispiel für eine Literatur, die ihr Entstehen thematisiert. Dass sich Horzon explizit auf diese Geschichte bezieht, zeigt, wie bewusst er „Das neue Buch“ geschrieben hat.
Seine ausgestellte Leichtigkeit steht im beeindruckenden Spannungsverhältnis zum Anspielungsreichtum, zur intellektuellen Durchdringung dieser amüsanten Story. Außerdem zeigt er, dass deutsche Unterhaltung ohne Schadenfreude auskommen kann. Auf amerikanische Weise zielt sein Humor nie auf andere Menschen, sondern konsequent nur auf sich selbst. Das ist selten.
Zwischen André Gides „Paludes“, Helmut Dietls Mediensatire „Kir Royal“ und dem „Dandy Diary“ Carl Jakob Haupts steht dieses popkulturelle Kaddisch auf einen verlorenen Freund. „Das neue Buch“ von Rafael Horzon ist das literarische Substitut für den verlorengegangenen Verve unseres Lockdown-Jahrs 2020. Es ist ein „Tristesse Royale“ ohne Adlon, ein Rainald-Goetz-Blog ohne Niklas Luhmann-Anspielungen. SpongeBob trifft Suhrkamp, und alle, die ein offenes Herz haben, werden mit Horzons „Das neue Buch“ dort getroffen, wo unsere Gefühle sind.
Rafael Horzon: „Das neue Buch“, Suhrkamp Nova, Berlin, 302 Seiten, 20 Euro