Jonas wacht auf und stellt fest, dass über Nacht alle Lebewesen dieser Welt verschwunden sind. Er weiß, er ahnt nicht, was geschehen ist. War es Massenflucht, ein Spiel Gottes, plötzlicher Wahnsinn oder ist er gar nicht aufgewacht, ist es ein nur nächtllicher Alptraum? Schaudernd begibt er sich auf eine verlorene Suche. Der junge Mann fährt allein durchs architektonisch unversehrte Österreich, trinkt einsam Tankstellen-Espresso, schickt sich Karten, die nie ankommen werden, filmt seinen Schlaf mit einer Videokamera, ruft den eigenen Anrufbeantworter an, um mit sich selbst, mit seiner Stimme zu sprechen. Niemand da, nirgends, nicht einmal ein Sinn. Schlicht, sauber und beängstigend schreibt der Wiener Thomas Glavinic in seinem neuen Roman „Die Arbeit der Nacht“ über diese Sinn- und Mitmenschen-Suche. Das Buch lässt einen verunsicherten, kurz aus dem Leben gerissenen Leser zurück. Es ist das „Matrix“- oder „The Six Sense“-Phänomen. Man geht aus einer Geschichte und denkt einen Abend lang nach, ob sich diese Welt wirklich echt anfühlt, ob das Leben nicht längst tot ist, wenn nicht auf die eine, dann wenigstens auf die andere Art und Weise, ob wir nicht doch in einem wahnsinnigen Trugbild vegetieren.
Ebenso Schlicht und sauber, dafür überaus witzig ist dagegen Glavinics‘ zuvor veröffentlichtes Buch „Wie man leben soll“, aus dem Frühjahr 2004. Hier wacht auch einer junger Mann auf, allerdings unwissentlich im komischen Korsett eines Ratgeberbuchs. Neben dem Mann (Charlie) ein Mädchen (Claudia) und mit ihr die erste Erkenntnis: „Berührt man die weibliche Brust, stellt man fest, daß sie sich ähnlich anfühlt wie ein Tafelschwamm.“ Wer über Teenagerliebe, 16-Jährigen-Blues und triste Pennäler-Trennungen mehr wissen will, konsultiert dieses Regel-Romanwerk, das durchgängig im „Man“-Duktus verfasst wird, also keinen Ich-, keinen Er-Erzähler vorstellt. Es gibt viele Probleme: Wie tritt man beispielsweise vor die Eltern (Werner und Anni) der einst Angebeteten und teilt ihnen mit, „daß man ihre Tochter am liebsten zurückgeben würde?“ Man mag Claudias Eltern nämlich, „fühlt sich ihnen verpflichtet. Das geht nicht, erst ihre Freundschaft annehmen, dann ihre Tochter verletzen.“ Ehrlich wäre die Begründung: „Ich bin siebzehn Jahre alt und möchte meinen Penis auch in andere Scheiden hineinstecken. Die von Claudia kenne ich in- und auswendig. Claudia ist nett, ihr seid nett, aber ich hätte gern jeden Tag Geschlechtsverkehr mit einer anderen Frau. Ich würde sogar mit dir gern schlafen, Anni.“
Ein Schelm ist, wer hier nur Böses denkt. Kein Schelm ist, wer sich an die alte Gattung der Schelmengeschichte erinnert. „Wie man leben soll“ steht irgendwo zwischen Grimmelshausens‘ „Der abenteuerliche Simplicissimus Teutsch“ und Woody Allens‘ „Alles,w as sie schon immer über Sex wissen wollten“. Geschlechtsorgan-gesteuert tapert der behäbige Karl „Charlie“ Kolstrum durch diesen abenteuerlichen Roman. Er entscheidet nie selbst, er wird getrieben. Meist zum Nachrteil seines Umfeldes. Er ist für die Damen eben nicht das, was sie sich aussuchen, sonder nur das, was ihnen passiert. Und soetwas wie Charlie passiert manchmal im Leben, eben. Da muss man durch, das kennen wir alle.
Eigentlich ist hier jede Szene ein Exempel, vom ersten Homosexuellen-Sex über einen versehentlichen Mord bis zum peinlich beichtenden Talkshow-Ende. Thomas Glavinic lässt wenige Lebenskatastrophen aus, um sogleich viele „Wie man leben soll“-Ratschläge hinterherzuschicken. „Merke: Wenn man sich im Fernsehen zum Trottel gemacht hat, erhält man in den Tagen darauf viele Anrufe“, oder auch, „Merke: Einem Ziel hinterherzulaufen gestaltet sich schwierig, wenn man es nicht kennt.“ Ähnliches gilt für diesen Bestseller-verdächtigen Roman, der auch erst dann zum Bestseller werden kann, wenn er (medial) wahrgenommen wird, wenn wichtige Rezensionen nicht zu einem Zeitpunkt erscheinen, wo das Mängelexemplar bereits für einen Euro bei Amazon-Marketplace verramscht wird. Leider ist dies der Falle gewesen, bei „Wie man leben soll“. „Merke: Wenn einen die Zeitungen feiern, bekommt man zum erstenmal seit langem von Mutter ein Bussi und wird liebgehabt.“
(Thomas Glavinic: „Wie man leben soll“, DTV, 240 S., 14 Euro)
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