Techno, Tomboy, Tocotronic: Noch ist die Erinnerung an die 90er Jahre wach. Als wir nicht in schnöden Discotheken, sondern feinsten Lounge-Clubs abhingen, den tragbaren Computer-Laptop irgendwann Notebook tauften und Bill Gates Tore zur intermedialen Blendwelt öffnete. Oasis sang über „Cigarettes & Alcohol“, Faithless konstatierte „God is a DJ“ und der 15-Jährige Benjamin Lebert taufte die Welt schlicht „Crazy.“
Sie war es, freilich: crazy. Aber was wird davon bleiben? Was ist bereits verschwunden? Ist es kühn, die 90er das Atlantis der Neuzeit zu nennen? Schließlich entstehen immer wieder Gerüchte über den Datenverfall der Generation @. Wir werden älter, unsere Erinnerungen verblassen. Das ist normal. Es fällt auf, dass sich Alt-68er auf den kulturellen Kram ihrer Jugendzeit beziehen; auf Straßenkämpfer-Weisheiten, Adorno-Thesen, John-Lennon-Zitate. Claudia Roth skandiert sonntags bei Sabine Christiansen: „Give peace a chance“ .
Die „Generation Golf“ der 80er archiviert längst Ideen, Musik und Ideale ihrer Zeit. Momentan geht es in Sachen Punk mit Ausstellungen wie der Rückschau in Düsseldorf, DAF-Comebackkonzerten und dem kommenden Benjamin-Quabeck-Film „Verschwende deine Jugend“ heiß her. Doch was interessiert uns das? Wir waren damals Windel-, Kindergarten-, Einschulungsfälle. Womit werden wir, die Dennis, Kerstin und Christian heißen, in zehn, in zwanzig, in dreißig Jahren argumentieren? Mit DJ Bobo, Blümchen oder Blur? Langsam müssen wir uns überlegen, was übrigbleiben soll, von Raves, Brasil-Welle, Benjamin von Stuckrad-Barre-Romanen. „Next is the E.“ Hoffentlich nicht.
Die Fantastischen Vier hatten es bereits 1993 erkannt: „Die Zeit verstreicht, vergeht, verrinnt, so wie die Worte, die du hörst, weil sie dann schon gesprochen sind.“ Sie vergeht und ihre Zeugnisse verschwinden. Popliteratur-Bücher werden in den Fußgängerzonen verramscht und aus Verlags-Programmen geworfen. Persönliche Liebes-SMS sind längst gelöscht, doch nie abgeschrieben worden. Korrumpierte Email-Dateien, die den Ex-Kontakt dokumentieren sollten, haben nur scheinbar Mamas zerfledderten Schmachtbrief-Karton ersetzt und sind schon jetzt nicht mehr lesbar. Frühe Internetseiten bleiben Blindpfade im World Wide Web, ständig überschrieben, nie gesichert. – Da Westbams Merve-Ausgabe von „Mix, Cuts & Scratches“ die Auflage des Marcuse-Klassikers „Konterrevolution“ nicht gesprengt hat, dürfte ein intellektueller Unterbau der Fanzine verrückten 130 BpM-Gemeinde auf taube Ohren stoßen. Bleiben uns bloß nichtige Zitate wie Giovanni Trapatonis „Ich habe fertig“, der Clausthaler-Werbespuch „Nicht immer, aber immer öfter“ und „Vertrauen ist der Anfang von Allem – Deutsche Bank“?
Dr. Joachim Studberg ist Archivar der Universität Wuppertal. Bei einem wie ihm muss man anfangen, wenn es um Vergangenheitsrettung geht. Dr. Studberg ist an der Uni die erste Institution, wenn es um die brennende Frage geht: Hopp oder topp? „Nach spätestens dreißig Jahren müssen mir alle Uni-Arbeitsunterlagen angeboten werden.“ Dr. Studberg entscheidet dann, was geschreddert werden darf und welcher Rest von fünf bis zwanzig Prozent zum horrenden Preis von 10-20 Euro pro Monat und Regalmeter aufgehoben wird. Ein verantwortungsvoller Job. Nicht alles bleibt, es wird selektiert. „Bewertungsfehler passieren, selbstverständlich.“
Nun mag man sagen, dass der Talkshow-Müll von Kerner und Konsorten, kilometerlange Big-Brother-Bänder und PUR-Mitschnitte unbesehen verschrottet gehören. Das wäre Selektion nach dem Lustprinzip. Zugleich würden wir uns peinlicher Nachfragen noch zu zeugender Enkelkinder entziehen. Ein Archivar kann darauf jedoch keine Rücksicht nehmen. Er hat freilich wissenschaftliche Kriterien.
Archive wollen repräsentativ sein und irgendwann soziologischen Zwecken taugen. Da nicht alles penibel gesichtet werden kann, geht man unter Anderem nach dem sachlich-unspektakulären D-O-T-System vor. Das heißt: Die Daten aller Leute, die mit D, O oder T beginnen, werden aufbewahrt. Damit hat man einen repräsentativen Schnitt. „Auch ausländische Namen sind berücksichtigt.“ Dass gesellschaftliche Schwankungen existieren, wird verschwiegen. Fangen die Namen von Indern nicht eher mit K wie Khan an als mit O wie Otto? Unwichtig. Der Rest kommt auf den Müll. Es sei denn, irgendeine Nase gehört zu den bbP, den „berühmt, berüchtigten Personen“, wie einst Rädelsführer Rudi Dutschke oder BWL-Student Dieter Bohlen. Von guten Profs wird gerne so viel wie möglich, vom ehemaligen Hausmeister so wenig wie nötig aufgehoben.
Man versucht, das Feld zu lichten und dennoch alles zu erfassen. Mit den 90er-Geschichten wird das immer schwieriger, weil im Zuge der allgemeinen Individualisierung jeder zum VIP (very important person) mutierte, bis der Begriff MIP (most important person) für die wirklich Wichtigen erfunden werden musste. Zudem existierten plötzlich Grunge- und Gabba-Gruppen, NuRock- und HipHop-Mischpoken, Cinemaxx- und Literaturlesungsbesucher. Die heil-zweigeteilte Stones-Beatles-Welt der 60er ist längst Geschichte. Dennoch muss und wird etwas wegfallen. Ansonsten reden wir mangels übersichtlicher Ideenordnung in dreißig Jahren immer noch von Adorno, den die taz unlängst als einen „der letzten Priester“ erkannte. Es liegt nun an jedem, den Dschungel zu durchforsten und selbst auszusuchen, was aufhebenswert ist.
In den USA regelt so etwas beispielsweise das gigantische Getty-Center in Los Angeles, Hinterlassenschaft des 1976 verstorbenen Öl-Tycoons J.P. Getty. Auf 330.000 Quadratmetern stehen dort unter Anderem 750.000 Bücher. „Getty Images“, die Agentur des Enkels Mark monetarisiert derweil ein 70 Millionen Foto starkes Bild- und ein 30.000 Stunden umfassende Filmarchiv. In Deutschland sammelt die Deutschen Bibliothek seit 2001 nicht nur alle nationalen Veröffentlichungen, wie früher, sondern auch Internetseiten. Ob diese Daten über viele Jahre lesbar sein werden, steht jedoch in den Sternen. Dr. Annette Hennings vom Nordrhein-Westfälischen Staatsarchiv Münster bestätigt, dass „sensible elektronische Daten auf einer CD, deren Lebensdauer zehn Jahre vermutlich nicht übersteigt“, dass sie sukzessive wie säurehaltiges Papier zerfallen.
Es wir nach neuen Wegen zur sogenannten Bestandserhaltung gesucht. „Das war früher nicht leichter und wird in Zukunft nicht unbedingt schwieriger. Lediglich die Rahmenbedingungen ändern sich.“ Über die Auswirkungen von Informationsverlusten „bezüglich der Jugendkultur der 1990er Jahre kann man zum Zeitpunkt sicher noch keine Aussagen treffen“, sagt Dr. Hennings. „Im Hinblick auf das Schriftgut werden die Informationsverluste nicht sehr hoch sein, im Hinblick auf Ton- und Bildträger ist das jedoch bei unprofessioneller Betreuung problematischer.“