Alles ist wieder möglich – so erscheint uns Neujahr. 2016 ist auch wieder drei Tage alt und doch erscheint es einem (noch), als gelte erneut dieser alte Satz von Hermann Hesse: „Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.“ Das liegt auch daran, dass die Karten scheinbar neu gemischt werden. Was wird geschehen? Wir wissen es nicht. Der im letzten Jahr ausgerechnet an meinem Geburtstag verstorbene Philosoph Odo Marquard hat immer wieder über Kontingenz nachgedacht, ihr eine ganze Essay-Sammlung gewidmet – „Apologie des Zufälligen“ heißt sie, 1986 erschienen. Sie inspiriert selbst jetzt, dreißig Jahre später – etwa den Berliner Schriftsteller Hartmut Lange. Ein Besuch in Berlin.
Hartmut Lange sitzt in seinem Wohnzimmersessel. Auf dem Tisch liegt in einer Schale Hausgebäck. Im Hintergrund ist das vollgepackte Bücherregal. Dort stehen die Werke vieler Philosophen, meist in Gesamtausgaben: Die Schriften von Arthur Schopenhauer, von Friedrich Nietzsche, von Blaise Pascal. Ebenfalls steht die „Apologie des Zufälligen“, eine Textsammlung des 2015 verstorbenen Philosophen Odo Marquard, der vor einigen Jahren die Laudatio gehalten hat, als Lange der Konrad-Adenauer-Preis verliehen wurde. Lange hat, als Vorbereitung auf das 2017 bei Diogenes erscheinende Buch über ihn, ein bislang unveröffentlichtes Typoskript ausgedruckt. In diesem gibt es auch einen längeren Text über Marquard.
„Für Schopenhauer war die Welt, was das Erkennen betrifft, reine Vorstellung. Wir haben also die Freiheit, sie dem Zufall oder der Notwendigkeit zuzuordnen“, schreibt Lange in diesem Typoskript. „Odo Marquard entscheidet sich für den Zufall und somit für die Poesie der Unberechenbarkeit, und seine Philosophie wirkt auf mich wie der Versuch, durch umsichtige, lebensfreundliche, poetische Gedankenarbeit den rechthaberischen und grobschlächtigen Ideologiekonglomeraten des 20. Jahrhunderts zu widersprechen.“ Lange schreibt, dass die „Apologie des Zufälligen“ zu den wichtigsten Texten der philosophischen Moderne gehöre.
„Eine Apologie ist sozusagen immer eine Verteidigung und eine Hinwendung oder ein Bekenntnis“, sagt der Schriftsteller. „Marquard ist der Meinung, dass man sein Leben nicht durch Determinanten oder gute Vorsätze vorherbestimmen kann, sondern jeder Einzelne findet sein Leben konkret vor. Und in dieser Konkretheit regieren eben nicht Notwendigkeiten, sondern Zufälle das Leben. Jetzt ist er dafür, dass man aus den Zufällen etwas Lebenssinnvolles macht und nicht immer behauptet, dass man sein Leben optimistisch und rechnerisch planen kann.“
Daher passt „Die Apologie des Zufälligen“ auch zum Jahresanfang. Man macht Pläne. Aber ist das sinnvoll, wenn am Ende der Zufall seine Macht entfaltet? „Wir Menschen sind stets mehr unsere Zufälle als unsere Wahl“, schreibt Marquard. „Ich sage, wohlgemerkt, nicht: wir Menschen sind nur unsere Zufälle; ich sage nur: wir Menschen sind nicht nur unsere Wahl. Und erst recht sind wir Menschen stets mehr unsere Zufälle als unsere absolute Wahl und haben das zu akzeptieren; denn wir sind nicht absolut, sondern endlich.“
Lange, an Marquard anknüpfend, sagt: „Die meisten Vorsätze, denen man sich optimistisch ergeben will, gehen nicht in Erfüllung. Man hat nur das Leben, das einem konkret gegeben ist. Das besteht aus Zufälligkeiten. Diese Zufälligkeiten kann man jetzt ergreifen oder kann sie schleifen lassen. Aber man kann keine Vorsätze leben, sondern nur das was geboten ist und einem zufliegt.“
Vor diesem Horizont betrachtet sind Vorsätze etwas Absurdes, sie wirken wie der hilflose Versuch, den zu erwartenden Zufällen dazwischen zu funken. Es steckt aber auch die Idee dahinter, dass wir der Mensch die absolute Möglichkeit hat, sein Umfeld zu steuern. Damit lebt er über seine Verhältnisse, mit Marquard gesprochen, „über die Verhältnisse seiner Endlichkeit. Will er das nicht, so muß er das Zufällige anerkennen: durch Apologie des Zufälligen.“
Hegel unterstellte, die Traditionsmeinung hier zusammenfassend, in der philosophischen Betrachtung „keine andere Absicht, als das Zufällige zu entfernen.“ Dennoch ist der Zufall allgegenwärtig. Wie wappnen wir uns dagegen? Marquard sagt: durch Üblichkeiten. Er schreibt: „Man muss – gerade auch gegenwärtig – ablassen vom Unsinn der Verachtung der ‚kleinen‘ Sinnantworten. Diesseits der Metaphysik ist – in bezug auf die Frage nach dem unsensationellen Sinn – die Minimalinstanz für eine Minimalantwort die Lebenserfahrung. Die aber zeigt: gerade das, was die Protagonisten direkter Sinnintention als deren Behinderung und Vereitelung verdammen – also die bestimmten und detaillierten und institutionalisierten Lebenspensen: z.B. Beruf, Familie, umgrenzte Verantwortungen, bestimmt Verrichtungen und Routinen –, ist das entscheidende Remedium gegen das, in was die direkte Sinnintention umschlägt: die absolute Verzweiflung, Die Menschen verzweifeln nicht, solange sie immer gerade noch etwas zu erledigen haben: die Milch am Überkochen zu hindern, den Zug in den nächsten Bahnhof zu fahren, das Baby zu füttern, zu Ende zu operieren, das termindringliche Förderungsgutachten zu schreiben, dem Ortsfremden Auskunft zu geben und so fort.“
Womit wir wieder bei den Vorsätzen wären. „Es gibt Leute, die sind unbegabt und leiden darunter, weil: sie wollen eben begabt sein“, sagt Lange. „Es gibt Leute, die wollen schreiben und es nicht können, und sie werden sich ein Leben lang damit herumquälen, dass sie das doch trotzdem versuchen. Das ist auch Lebensqualität. Dass ist dann die Unfähigkeit des Einzelnen, von seiner Vorstellungswelt zum Glück zu lassen oder die Vorstellungswelt zum Glück so zu reduzieren, dass man sagt, man hat im Leben nur das, was einem der Zufall zuspielt.“
Er gibt ebenfalls zu bedenken, dass einige Menschen gerne trinken, dass sie durch den Alkohol glücklich sind. Wenn sie aber – als Neujahrsvorsatz – beschließen, keinen Wein anzurühren, kann es sein, dass sie unglücklich werden. Was aber soll ein Vorsatz, der nicht glücklich macht; sollte nicht eher das gut und richtig sein, was dem Einzelnen Glück bereitet? – An dieser Stelle biegt Lange von Marquard ab. „Es gibt Leute, die haben die Wildente im Kopf, die wollen mehr sein, als sie im Augenblick sind oder scheinen, auch wenn das Unsinn ist, wird man davon nicht lassen. Es gibt ja dieses berühmte Stück von Ibsen, mit der Wildente, wo die Lebenslüge eine ganz große Rolle für die Glücksfindung des Einzelnen spielt“, sagt Lange, „nach Marquard wäre das nicht nötig. Man muss sich im Leben nichts vormachen. Man braucht die Lebenslüge nicht, um glücklich zu werden. Man kann durchaus erkennen, dass man ein mittelmäßiger Mensch ist und den Rest als Unsinn abfahren lassen. Da ist Marquard ein bisschen realitätsverarmt.“
Wir können also durchaus Pläne machen. Aber wir müssen mit der „Apologie des Zufälligen“ von Odo Marquard berücksichtigen, dass es keine Notwendigkeiten gibt – außer jene Notwendigkeit, dass alles zufällig ist. Pläne gehen schief. Sie entwicklen sich sogar hauptsächlich anders als beabsichtigt. Wer sich trösten und nicht in den freien Fall geraten will, der kann sich an den Üblichkeiten festhalten, an Regeln, Ritualen, seiner Pflicht (einer der Gründe übrigens, weshalb wir uns mit Camus den tagein, tagaus seinen Stein den Berg hochrollenden Sisyphus als glücklichen Menschen vorstellen müssen).
Marquard: „Des Menschen Wirklichkeit ist – wenn das bisher Gesagte stimmt – überwiegend das Zufällige. Zufällig ist das, was auch anders sein kann. Aber wenn es anders sein kann, dann – wenn auch zufälligerweise – ist es häufig auch anders: die zufällige Wirklichkeit – zufällig – ist vielfach so und auch anders; sie umfaßt Verschiedenes: sie ist vielgestaltig, bunt. Diese Buntheit – gerade sie – ist die menschliche Freiheitschance.“
Odo Marquard: „Apologie des Zufälligen – Philosophische Studien“, Reclam Stuttgart, 1986, 144 Seiten (vergriffen) / Hartmut Lange: „Der Blick aus dem Fenster“, Diogenes, 112 Seiten, 19 Euro / ders.: „Über Odo Marquard“, Aufsatz, unpublizierte Manuskriptfassung. / hier geht es zur Deutschlandradiokultur-Sendung vom 3.1.2016 mit meinem Beitrag über Hartmut Lange