Was haben Gott und Rufus Beck gemeinsam? – Beide können mit ihrer Stimme gigantische Lebenswelten erschaffen. Der eine spricht: „Es werde Licht!“ Und es ward Licht. Der andere schafft mit umwerfendem Timbre Zauber- und Steampunkkulissen. Rufus Beck war Reiseleiter bei Momo-, Gulliver- und Polarexpresstrips. Er hat Millionen Fans nach Hogwarts, ans Zauberinternat gelockt und über 100 Charakteren seine Stimme gegeben. Das letzte Harry-Potter-Abenteuer ist vor wenigen Tagen auf 22 CDs erschienen. Lord Voldemort, der Mörder von Harry Potters Eltern, ist endlich bei der Schlacht von Hogwarts vernichtet worden. Der Held überlebt, lässt seine Jugend hinter sich und wird erwachsen. „Alles war gut.“ Mit diesem Satz endet es.
Gelassen sitzt Rufus Beck im Wohnzimmer des Frankfurter Studios „Parviz Mir – Ali“, wo er gerade „Die unendliche Geschichte“ von Michael Ende eingelesen hat. Es wäre unhöflich, jetzt die Augen zu schließen, um beim Gespräch alle Fantasiestimmen von Rufus Beck raushören zu können. Denn der Schauspieler ist nicht Harry Potter! „Ich fühle mich mehr als Medium“, sagt er, „natürlich sind die Figuren Vorstellungen von mir.“ Das klingt professionell, erschreckt einen zunächst. Aber kalt lassen ihn die vielen Abenteuer doch nicht, zum Glück: „Manchmal gehe ich in der Geschichte so auf, dass ich hinterher nicht sagen kann, was genau passiert ist“, sagt er. Rufus Beck ist kein Zyniker, er zerstört die Träume anderer Menschen nicht. Das macht ihn großartig.
Acht Tage hat die letzte Potter-Produktion im Münchner Studio gedauert, „ziemlich schnell“, sagt Beck, „aber es gab auch kaum neue Figuren, es waren alles alte Bekannte, die mich schon seit Jahren begleiten, Figuren, über die ich sehr viel weiß. Bei Snape erfahren wir etwas über seine Kindheit, das ist sehr schön. Wir erfahren viel über den Hintergrund, „Die Heiligtümer des Todes“ sind fast ein Index über die Figuren, ein Weg zu deren Verständnis, der Band ist nicht der Höhepunkt, er ist das Ende. Wenn Schluss ist, ist Schluss. Ich hätte es auch schlimm gefunden, wenn es eine endlose Geschichte geworden wäre. Es sind eben diese sieben Schuljahre und Joanne K. Rowling hat das am Anfang auch so konzipiert. Sie hat sich nicht von ihrem eigenen Erfolg korrumpieren lassen.“ Und Rowling hat Harry nicht in den Tod geschickt, obwohl dann „natürlich der Mythos“ entstanden wäre.
Die lesenden Kinder hätten diesen Schock vermutlich schwer verkraftet. Es ist faszinierend, wie ein Romangeschöpf die 90er-Jahre-Boxgrouphelden abgelöst hat. Harry Potter ist der neue Robbie Williams, eine gigantische Projektionsfläche, So jemand muss überleben. Genug Hogwarts-Helden haben das Zeitliche gesegnet. „Sirius Black stirbt, Dumbledore stirbt, Dobby stirbt, die Eule stirbt, Harry Potter fehlen die Eltern, bei denen er Kind sein darf“, zählt Beck auf, „Das wundert einen schon, dass er das ganz gut überlebt hat.“ Beck liest die sieben Bände deshalb als „eine Suche nach der verlorenen Zeit, nach der verlorenen Kindheit.Denn wer keine wirkliche Kindheit hatte, der kann niemals erwachsen werden.“ Harry Potter geht aber immer dorthin, wo es wehtut, „er stellt sich Lord Voldemort. Andere machen wegen sowas Rebirthing, er hat sein Denkarium.“ In diesem Gefäß konserviert der Zauberlehrling seine Gedanken, er löscht sie nicht aus.
Und er benutzt dieses Medium, um Kontakt zum verstorbenen Internatsleiter und Mentor Albus Dumbledore aufzusuchen. Ist es denkbar, dass Joanne K. Rowlings „Harry Potter“-Geschichte auch für Rufus Beck ein Denkarium war, für ihn, der selbst lange auf einem Internat gelebt hat? „Es hat mich erinnert“, sagt er, „das Gefühl von Harry Potter, den ersten Tag an dieser Schule, alle werden von den Eltern hergebracht, und er ist schon da eine Ausnahme, weil er den größten schwarzen Zauber überlebt hat, den größten Fluch überhaupt. Unter all den Mitschülern gibt es sofort Gruppierungen, Gangs, Identifikationsfiguren, überall gibt es Wettbewerb, Herausforderungen, das kenne ich.“
Rufus Beck würde seine Kinder niemals auf ein Internat schicken, denn „das bedeutet erst einmal: Die Kinder sind weg von dir und das Kind ist weg von den Eltern, das muss sich da durchschlagen. Ich empfinde, wenn Kinder auf ein Internat kommen, dann ist das immer auch aus einer Not heraus, weil die Eltern beruflich so eingebunden sind, dass sie sich nicht wirklich darum kümmern können, oder weil man glaubt, dass das Kind auf dem Internat in einer besonderen Art und Weise gefördert wird. Aber Kinder müssen auch Schwäche zeigen können, müssen schwach sein, müssen traurig sein, müssen Zweifel zeigen können. Sie dürfen auch kränkeln. Sie wollen in den Arm genommen werden. Und das können sie am besten bei den Eltern, das können sie nicht mit Freunden.“ In der Familie können Kinder erwachsen werden.
Im vergangenen Jahr hat Rufus Beck ein bemerkenswertes Sachbuch veröffentlicht: „Kinder lieben Märchen …und entdecken Werte“ heißt es. Darin stellt er 18 bekannte Märchen vor und beschreibt, was „Die Bremer Stadtmusikanten“ über Freundschaft oder „Das hässliche junge Entlein“ über Toleranz erzählen. Es ist ein warmherziger Erziehungsratgeber, der nichts mit diesen Privatfernsehen nervösen Super-Nanny-Hysterien gemeinsam hat. Dieses Buch ist ein rührendes Bekenntnis zur Familie, zur Literatur, zum gemeinsamen Leben. „Ich habe mich gefragt, wie kann man Kinder verwickeln in ein Gespräch über Geschichten? Aschenputtel finde ich unheimlich interessant. Vater stirbt, Mutter nimmt eine neue Frau, und sie hat zwei neue Kinder. Aschenputtel ist das Stiefkind. Sie wird schlecht behandelt. Der Vater bringt ihr von der Reise einen Weidenzweig mit, den pflanzt sie auf dem Grab der Mutter. Und Aschenputtel vergießt jedes Mal, wenn sie an dem Grab ist so viele Tränen, dass der Zweig wächst, er wird befruchtet. Heute würde man sagen: Dieses Mädchen macht aktive Trauerarbeit. Die Trauer ist fruchtbar, weil sie diese Trauer wirklich zulässt. Es ist nicht gut. Es ist nicht schlecht. Es ist ihr Leben. Und diese Trauer bringt Chancen. Das ist eins zu eins. Hätte sie nicht geweint, hätte das Bäumchen nicht wachsen können, dadurch, dass das Bäumchen wächst, Bäumchen schüttel Dich, Bäumchen wechsel dich, kommen diese Kleider runter, dadurch lernt sie später diesen Prinzen kennen. Also, das glaube ich, ist eine versteckte Botschaft, die hat einen ganz ganz wesentlichen dramaturgischen Charakter.“
Harry Potter muss auch leiden, damit auf der letzten Seite stehen kann: „Alles war gut“, dieser Satz ist das stille Ende einer schmerzhaften Jugend. Ein schönes Gleichnis. Für Rufus Beck ist Glück, „wie eine Sternschnuppe. Man sieht sie für einen Moment, und ist ganz leicht und frei und wunschlos glücklich. Das sind Augenblicke, die einen auch süchtig machen, die möchte man wieder erreichen, weil sie so selten, so fragil sind. Doch da muss man sich überwinden. Künstler kennen das, wenn sie so lange an einer Rolle gearbeitet haben, sie kennen die Ängste und Zweifel. Vincent van Gogh musste diese Ängste, diese Suche nach Glück in Bildern ausdrücken. Sonst hätte er sich gleich ein Ohr abgeschnitten. Und den Hals noch dazu.
(„Harry Potter und die Heiligtümer des Todes“, gelesen von Rufus Beck, 22 CDs, 2200 Minuten, Der Hörverlag, 89,95 Euro // „Der Goldene Kompass“, gelesen von Rufus Beck, 11 CDs, 848 Minuten, Hörbuch Hamburg, 39,95 Euro)