Die Endlichkeit allen Daseins ist seit jeher das gewaltigste Thema der Weltliteratur. Bereits das „Gilgamesch-Epos“, 3500 Jahre alt, erzählt von der hingebungsvoll-verzweifelten Suche nach Unsterblichkeit, von Trauer und Tod. Hier sind vier thematisch sortierte Beispiele der vergangenen Jahre gesammelt: das Requiem „Tonio“ von A.F.Th., der letzte Band der Wallander-Reihe (mit einem sterbenden Kommissar), der leicht abgedrehte „Abzittern“-Text von Herbert Genzmer über jemanden, der sich mit der mystischen Voraussage seines Todes konfrontiert sieht und dann, seit heute im Buchhandel, „Tony Soprano stirbt nicht“ von Antonia Baum, deren Debüt bereits den paradigmatischen Titel trug „Vollkommen leblos, bestenfalls tot“. (Das Beitragsbild zeigt die Autorin, © Mathias Bothor/photoselection)
Hierzulande wurde der niederländische Großschriftsteller A.F.Th. durch seinen 2010 erschienenen 1200-Seiten-Roman „Das Scherbengericht“ bekannt, einer Geschichte über John Lennon, den Massenmörder Charles Manson und „Tanz der Vampire“-Regisseur Roman Polanski. Zur gleichen Zeit geschah allerdings ein Unglück. Tonio, der gerade mal 22-jährige, einzige Sohn von A.F.Th. starb bei einem Verkehrsunfall. „So schrecklich … so schrecklich, daß ich ihn nie mehr sehen werde“, klagt seine Mutter Mirjam, die A.F.Th. die ganze Zeit zärtlich „Minchen“ nennt. „Daß ich ihn nie mehr werde umarmen können. All diese ganz gewöhnlichen Dinge … weg, weg, weg.“ Was bleibt, hat A.F.Th. von Juni 2010 bis März 2011 in tiefer Trauer niedergeschrieben: Nachmittage, als sie Hummeln und Schmetterlinge schauten. Fotografien von Tonio – die er als Kunststudent selbst geschossen hat und nun seinen Nachlass bilden. A.F.Th. denkt an den letzten Abend, an dem er vergaß, seinem Sohn 50 Euro zuzustecken, was ihn auf dem Heimweg damals ärgerte; was aber auch belanglos wurde, mit Tonios Tod.
Am Traurigsten sind Krankenhaus-Szenen. Tonio soll nur so lange beatmet werden, bis sich seine Eltern verabschiedet haben. Und A.F.Th. versucht hilflos, diesen grausamen Augenblick hinauszuzögern. – Erschütternd bis ins Mark. (A.F.Th: „Tonio“, übersetzt von Helga van Beuningen, Suhrkamp, 672 Seiten, 26,90 Euro)
Wie es sich fürs letzte Level gehört, wird der schwedische Kommissar Wallander zum Abschluss von Mankells umfeierter Krimiromanreihe dem bislang größten Gegner gegenübertreten – seinem eigenen Tod, also jene Schranke vor sich spüren, hinter der der Abgrund des Endlichen lauert, das Nichts. “Der Feind im Schatten“ erzählt, wie Menschen von ihrer Vergangenheit eingeholt werden. Es geht um alte Spione, die im Kalten Krieg gegen Schweden gearbeitet haben, es geht um falsche Fährten, um DDR-Dopingmittel, mysteriösen U-Boote, amerikanische Invasionen, kurzum: „Der Feind im Schatten“ erzählt von der großen, undurchdringlichen Nachkriegsgeschichte Europas und gleichzeitig von den kleinen, mit ihr einhergehenden Schicksalen. Wallander, der kurz vor seiner Rente steht, ist hier ein Sterbender. Er schwächelt, erleidet Herzattacken, kommt ins Krankenhaus, erlebt Burn Out-Momente, hat sich kaum noch im Griff.
Ein unheimliches, wenngleich nicht an allen Stellen packendes Ende der Wallander-Reihe. Ruhe sanft. (Henning Mankell: “Der Feind im Schatten“, übersetzt von Wolfgang Butt, 592 Seiten, 26 Euro)
„Alles ist dabei, jede Spielart vertreten, von Latex bis Windelboy, vom sanften Dominator bis zur natursektverliebten Muriel…“ Obwohl man es vermuten könnte: „Abzittern“ ist kein Fetischroman. Diese hier aufgezählten Figuren tauchen in einem Onlineforum auf, das als zweite Welt des Schriftstellers Beck inszeniert wird. Der soll als Ghostwriter nach Portugal reisen und für den Scharlatanarzt Pentland ein Buch über Fernheilung verfassen (kein „Tod in Venedig“ also, aber auch die Fahrt eines Sterbenden). Auf der Reise Richtung Süden entdeckt der fast 50-Jährige das Internet für sich, diesen virtuellen Treffpunkt unzählbarer Scharlatane, Ghostwriter und Fernheiler. Er meldet sich unter weiblichem Pseudonym an und tauscht bald Phantasien mit einer bisexuellen Ehefrau aus. Der neurotische Künstler fühlt sich plötzlich begehrt, seine Erregung ist wirklich. Aber das Internet macht ihn krank. Das Treffen zwischen Autor und Arzt läuft in Lissabon aus dem Ruder, als Pentland behauptet, Beck sei todgeweiht, voller Viren,
er verliere sich selbst. Später stirbt eine kleine Patientin Pentlands, eine Chatpartnerin wittert Becks virtuellen Flirtbetrug und was vor Kurzem noch fern war kommt unbeherrschbar nah. „Abzittern“ ist oft virtuos erzählt, souverän aus Chatprotokollen und Tagebucheinträgen collagiert, gegenwärtig, unheimlich und den meisten Chatfenstern vorzuziehen. (Herbert Genzmer: „Abzittern“, Mitteldeutscher Verlag, 300 Seiten, 22 Euro)
Antonia Baum, Redakteurin im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, schreibt in ihrem ultrakurzen Roman „Tony Soprano stirbt nicht“ über: Das Sterben. Der Vater der 30-jährigen Ich-Erzählerin ist nach einem gemeinsamen Abendessen mit seinem Motorrad verunglückt und liegt im Koma. Seine Tochter, eine Schriftstellerin, glaubt anfangs, dass „ich das Leben nicht lesen kann wie einen Roman, in dem Zeichen versteckt sind.“ Sie weiß, „dass Geschichten keine Prognosen sind für das, was vor einem liegt.“ Dennoch klammert sie sich an medial vermittelte Wunder, zum Beispiel dem, dass Serienheld Tony Soprano lange im Sterben gelegen hat – dann aber überlebte. „Und wir alle wussten, dass er überleben würde.“ In der Realität ist der Tony-Darsteller James Gandolfini im Sommer 2013 überraschend gestorben. Was ist nun wahr? Lebt Tony? Baums Roman ist ein Vexierspiel über die Austauschbarkeit von Fiktion und Realität, über die Frage, in welcher Weise Geschichten unsere Weltwahrnehmung beeinflussen. „Tony Soprano stirbt nicht“ aktualisiert ständig Medienszenarien, allerdings nicht als Stimmungsklischee wie zuletzt in
der Popliteratur gelesen. Alle Handlungen werden hier mit den eingeübten Mediencodes kurzgeschlossen: „In einem Film wäre die Tatsache, dass wir Scherze machten, ein Hinweis auf eine Dysfunktionalität in der Familie.“ – „Es war alles wie in der Serie, nur dass wir nicht so laut weinten.“ – „In Filmen über den Tod hätte sich die Hauptdarstellerin an dieser Stelle auf die Lippen gebissen.“ – Daneben sind Spekulationen gestellt, darunter eine wahnsinnig starke Totemgeschichte über den irgendwann verunglückten Familienhund und dessen Verhältnis zum Vater. Das ist kein Pop, aber es erzählt vom Pop. Der Fernseh-Pop-Geschichten-Musikkenner ist hier erstens kein Mann, sondern eine Frau (in der Popliteratur war „der verlassene adolszente Mann“ stilprägend) und – auch das ist anders als in der Popliteratur – die Ich-Erzählerin arbeitet nicht im Hypermedienverbund wie beispielsweise der Held von Benjamin von Stuckrad-Barres „Soloalbum“. Sie ist, eher langweilig: Schriftstellerin auf der einen, private Binge-Watcherin auf der anderen Seite. Hier wird nicht, wie in Christian Krachts „Faserland“ real erbrochen, sondern stattdessen künstlerische Beobachtungen Zweiter Ordnung ausgekotzt. Kleines, schlichtes Buch, große, rasante Literatur, ein hypernervös schnell erzähltes Requiem auf einen Menschen der (noch) nicht tot ist – von einer Erzählerin, die im Gegensatz zu dieser Hypernervosität ausgesprochen überlegt ihre Worte setzt. (Antonia Baum: „Tony Soprano stirbt nicht“, Hoffmann & Campe, 144 Seiten, 18 Euro)