Viele Schriftsteller haben ihren Ruhm nicht erlebt. „Moby Dick“ wurde über Jahrzehnte als Walfang-Abhandlung gelesen. Herman Melville hat die letzten Exemplare verschenkt. Wolfgang Borchert starb einen Tag vor der Uraufführung seines Theaterstücks „Draußen vor der Tür“ – und es gibt Roberto Bolaño, 1953 in Santiago de Chile geboren, der 50 Jahre später beinahe mittellos in Barcelona an einer Leberzirrhose krepiert ist. 2009 schrieb Daniel Kehlmann: „Wäre er damals schon der weltberühmte Autor gewesen, der er nach seinem Tod wurde, er hätte wohl eine bessere Krankenversicherung und größere Chancen auf die rettende Operation gehabt.“ Vier Bücher zum Einstieg in eine dunkle Welt. (Das Beitragsbild ist entstanden bei der Buchhandlung Bittner in Köln)
EINS 2003 starb der chilenische Schriftsteller Roberto Bolaño im Alter von 50 Jahren an einer Leberzirrhose, verarmt und nahezu unbekannt. Zurück ließ er einen unfassbar dicken Manuskriptstapel, der wenig später unter dem Titel “2666” erscheinen sollte. Christian Hansen hat das 1100 Seiten umfassende Werk aus dem Spanischen ins Deutsche übersetzt, eine Geschichte aus fünf monströsen Kapiteln, in deren Mittelpunkt die Hölle steht. An der Grenze zwischen Südamerika und den USA werden Frauen ermordet, eben dort, wo vier Kritiker aus Europa den verschollenen Schriftsteller Archimboldi vermuten. Ist der große Unbekannte in diese bestialischen Verbrechen verwickelt? Ist Archimboldi selbst der Mörder? Können Geister längst Verstorbener ein Unheil heraufbeschwören? Wie zerstört sich eine erbarmungslose Gesellschaft Ende des 20. Jahrhunderts und was wird ein Kritiker über diesen Weltroman denken, wenn er im Jahr 2666 seine Seiten liest? In einer Mischung aus Thomas Pynchon, Stephan King, Mark Z. Danielewski, New Journalism und schwarzer Magie zauberte Bolaño in jahrelanger Schwerstarbeit eine Welt, die aus den Angeln fällt. Die Kritiker sind sich inzwischen einig: Wäre Bolanos Genie rechtzeitig erkannt worden, die Medizin hätte ihn mit einer Spenderniere gerettet, wäre er einer der weltweit größten noch lebenden Schriftsteller. Roberto Bolaño: „2666“, übersetzt von Christian Hansen, Hanser, 1195 Seiten, 26,95 Euro
ZWEI Nach dem Unfalltod ihrer Eltern schlagen ein römischer Bruder und seine Schwester die Zeit tot, schwänzen die Schule, jobben, er in einem Fitness-Studio, sie in einem Frisiersalon. Sie faulenzen, schauen Pornofilme, um zu lernen, „wie man Liebe macht“ und sie versenken sich in Castingshows, um die Hoffnung nicht aufzugeben, dass irgendwo eine bessere Welt auf sie wartet. Ihre Gegenwart ist dominiert von Schönheitskulten, Fitness, Frisuren, schnellem Sex. Öde. Doch „eines Nachmittags kam mein Bruder mit zwei Männern an. Sie waren nicht seine Freunde, auch wenn mein Bruder das glauben wollte. Der eine war Bologneser, der andere Libyer oder Marokkaner. Der gleiche Kopf, die gleiche Nase, die gleichen Augen.“ Ab jetzt wird es unheimlich. Das Mädchen wird abwechselnd mit den beiden schlafen, in der Dunkelheit, und nicht erfahren wollen, wem sie sich hingibt. Der Libyer und der Bologneser wollen als Bodybuilder Karriere machen – doch sie bleiben erfolglos und werden, wie viele hoffnungslose Fälle, kriminell. Sie setzen das Mädchen auf einen Ex-Mr. Universum an, der blind und verlassen in seiner großen Villa lebt. Sie soll ihn so lange verführen, als Prostituierte, bis sie herausgefunden hat, wo sein Tresor versteckt ist. „Ich hatte Angst, eine Nutte zu sein. ich wäre ungern eine Nutte gewesen. Ich ahnte jedoch, dass alles eine Frage der Gewohnheit ist.“ Ab da geht es endgültig bergab, als wäre das Auto, in dem ihre Eltern verunglückten, nie gestoppt worden. Der „Lumpenroman“ ist eine gewaltige Abrechnung mit modernen Mythen und Pophysterien und ein brutaler Rausschmiss aus dem Familienparadies, ab dem „Heim“ nicht mehr das Gegenteil von unheimlich ist. Roberto Bolaño: „Lumpenroman“, übersetzt von Christian Hansen, Hanser, 112 Seiten, 14,90 Euro
DREI Blut, Schweiß und Tränen bietet der Urlaubsthriller „Das Dritte Reich“. Im spanischen Del Mar entspannen zwei Pärchen. Hauptfigur Udo aus Stuttgart schreibt in seinem Tagebuch jeden Abend mit, sofern er nicht an seinem „wargame“ sitzt. Diese Manöversimulation heißt „Das Dritte Reich“ und ist ein tatsächlich existierendes Brettspiel, bei dem man Feldzüge des Zweiten Weltkriegs neu planen kann. Während des Urlaubs, der eigentlich aus Sonne, Strand und Schirmchencocktails bestehen sollte, bricht das Grauen ein. Es gibt unvermittelte Schlägereien, Vergewaltigungen, Übergriffe und am Ende zwei Tote. Wer sich nicht direkt ans 1200-Seiten Hauptwerk „2666“ heranwagen will, steigt mit „Das Dritte Reich“ fürs Erste tief genug hinab in die brutale Zwischenwelt Bolaños. Roberto Bolaño: „Das Dritte Reich“, übersetzt von Christian Hansen, Carl Hanser Verlag, 320 Seiten, 21,90 Euro
VIER „Monsieur Pain“ ist laut Vorwort des Autors, dem wir nicht trauen sollten, bereits Anfang der Achtziger entstanden, und „fast alles, was erzählt wird, hat sich in Wirklichkeit so zugetragen.“ Die Geschichte spielt im Paris des Jahres 1938, während des Spanischen Bürgerkriegs. Der Akupunkteur Pierre Pain wird beauftragt, einen sterbenskranken Mann im Spital aufzusuchen: „Zwei Frauen, darum bemüht, einen armen Mann am Sterben zu hindern, wenden sich an einen anderen armen Mann, weil die Wissenschaft nichts auszurichten vermag oder dazu willens ist.“ Doch der Alternativmediziner wird gehindert, seinen Patienten zu begutachten. Es wird mysteriös. Pain wähnt sich verfolgt von schattenhaften Figuren. Doppelgänger huschen durch den falben Hintergrund seines Lebens. Er wird heimgesucht von spukhaften Alpträumen, die ihm vorkommen wie radiophonische Sendungen, „ohne Zweifel eine Vorwegnahme der Hölle; einer Hölle aus Stimmen, die sich ineinander verschränkten.“ Die hier auftretenden Seelenverwandten, Zwillinge, Schatten, Simulakren, Drehtüren und Duos deuten an, dass der Sterbenskranke ein Sinnbild ist für die moribunde Verfasstheit des Helden. Ist er, der einst in Verdun schwer verwundetet wurde, nie zurückgekehrt? Sind wir zu Zeugen einer wahnhaften Agonie? Nur wer aufmerksam liest, wird auf dem abschüssigen Gelände dieses grandiosen Textes Halt finden. „Monsieur Pain“ lässt erahnen, weshalb David Lynch („Twin Peaks“) ein Vorbild des Autors gewesen ist. Roberto Bolaño: „Monsieur Pain“, aus dem Spanischen von Heinrich von Berenberg, S. Fischer, 176 Seiten, 21 Euro