Die tschechische Hauptstadt Prag, nach einem sommerlichen Besuch Anfang Juli des Jahres 2014 ein Zielgebiet, steht natürlich auch für die große Literatur. Hier gibt es vier Empfehlungen: von Ludvik Kundera über Jaroslav Rudiš und Petra Hulovà bis zum großartigen Ludwig Winder.
EINS Wie selbstverständlich heißt hier die Entenkeule „Berthold Brecht“, die Profiteroles „Adalbert Stifter“ und nebenan ist das Restaurant “Rainer Maria Rilke“. In vielen Cafés stehen Bücherregale und wer sich abzocken lassen will geht zum Kafka-Haus, wo eine fürchterlich geführte „Buchhandlung“ untergebracht ist: fotografieren verboten, aber „good book to buy“. Prag ist Kafka. Prag ist aber auch Ludvíg Kundera, Absolvent der Karls-Universität und Cousin von Tschechiens Bestsellerautor Milan Kundera. Tipp: „el do Ra Da(da)“, eine Sammlung aus Bildern, Gedichten und Erzählungen. Seine Geschichten aus den 1940er Jahren lesen sich wie Kommentare aus Neue-Mitte-Cafés: „Monologe, zwischen denen hier und da ein Lächeln raschelt.“ Dieselbe Eitelkeit wie heute. Tatsächlich ist es das apokalyptische Kriegsberlin, in dem der junge Tscheche zur Zwangsarbeit gezwungen wurde, das Berlin der Bomben, des Hungers, der Seuchen. Nach 1945 startete Kundera in seinem Heimatland durch, bevor die Kommunisten 25 Jahre später ein Publikationsverbot gegen den subversiven Autor verhängten. Deshalb hören wir erst jetzt von ihm und diesem kraftvollen Buch:poetisch, wirr, dada, rauschhaft wie ein starker Sonnenstich. (Ludvíg Kundera: el do Ra Da(da), Arco, 416 Seiten, 32 Euro, übersetzt von Eduard Schreiber).
ZWEI „Ich fasse es einfach nicht. Wer hat die niedrigste Arbeitslosigkeit in der EU? Wir Tschechen. Das höchste Wirtschaftswachstum? Wir Tschechen. Das beste Bier? Wir Tschechen. Und warum? Weil wir in der EU sind, obwohl das gute Bier, das gab’s schon vorher. Aber wer schreit seit Jahren, er will raus aus der EU? Wir Tschechen. Da stimmt doch was mit uns nicht.“ Jaroslav Rudiš hat zum ersten Mal Geschichten auf Deutsch geschrieben – sie sind erschienen in der sehr feinen (bei Amazon nicht erhältlichen) Edition Thanhäuser. Der Meister des Unmittelbaren rückt in dieser sehr dialoggetriebenen Kurzprosa noch näher, konfrontiert uns im Parlando-Ton mit den gegenwärtigen Fragen des linkspolitisierten Tschechien, das schwankt zwischen der Sehnsucht nach alter, herrschaftlicher Größe, nach nationalstaatlicher Unabhängigkeit und einer Romantik, die im Jahr 2018 verloren zu sein scheint. Man redet über Gitarrenmusik und „Doktor Kafka“; über Würste, die wie Moldau-Wasserleichen aussehen, über alte Krematorien, Todesfälle, Gräber, Urnen und Frauen. Eine morbide, zwischen Vergangenheit und direkter Gegenwart irisierender Band, der uneingeschränkt empfehlenswert ist. (Jaroslav Rudiš: „Der Besuch von Herrn Horváth“, Mit zwölf Holzschnitten von Christian Thanhäuser und einem Original-Holzschnitt am Umschlag, Edition Thanhäuser, 76 Seiten, 24 Euro)
DREI Eine bemerkenswerte Widerstandsgeschichte: Ludwig Winders „Die Pflicht“ zeichnet mit präzisem Stift ein vorbildhaftes Einzelschicksal in der besetzten ČSR Ende der Dreißiger, Anfang der Vierziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Der Tariffachmann Rada, Rädchen im Getriebe des Tschechischen Eisenbahnministeriums, ist ein nützlicher Untertan. Sein Wille: Schutz der Familie. Die ermöglichende Pflicht: dienliche Arbeit. Mit dem Einmarsch der Nazis zerfallen diese Zusammenhänge jedoch. Nachdem sein Sohn deportiert wird, schließt sich Rada dem heimlichen Widerstand an. Seine Pflicht, die Befreiung des Tyrannen, widerspricht plötzlich dem anfänglichen Willen. Klug gebaut, mitreißend, zum Ende hin geradezu atemraubend erzählt Winder hier Erschütterndes. Der Autor, nach Kafkas Tod dem engeren Prager Kreis um Max Brod angehörend, ist selbst 1939 über Polen nach England geflohen, wo „Die Pflicht“ 1943 entstand. Die Erstauflage war binnen vier Wochen ausverkauft. Genaue, historische Hintergrund liefert das abschließende Nachwort von Herausgeber Christoph Haacker, der mit diesem Band einen großen Autor wiederentdeckt hat. (Ludwig Winder: „Die Pflicht“, 200 Seiten, Arco, 20 Euro)
VIER “Cirkus Les Mémoires” heißt der schwärmerische New-York-Roman von Petra Hulová im tschechischen Original. Die 1979 in Prag geborene Autorin erzählt von Tereza und Ramid, zwei Gestrandeten im wilden Osten Amerikas, zwischen Bronx, Manhattan, Chinatown. Tereza, glutäugig und backfischjung, ist mit Fotos und einer Menge Hoffnung aus Tschechien angereist. “Irgendwer wird hier ein Buch mit ihren Fotos verlegen und sie kehrt wieder zurück”, glaubt sie anfangs, “bis dahin wird sie von Tür zu Tür wandern, wie man es in Filmen sieht. Wer etwas kann, wird früher oder später von jemandem wahrgenommen.“ Dieser Jemand ist in Terezas Fall der wesentlich ältere Orientale Ramid, ein Perser, der 20 Jahre vor ihr aus dem Nahen Osten nach New York gekommen ist, zusammen mit dem hungerleidenden “Cirkus Les Mémoires”. Ramid trifft Tereza zufällig auf einer Parkbank in Manhattan und hält die junge Frau für die von seiner Mutter vorhergesehene große Liebe. Die beiden finden zusammen und “Manches wird geschehen”, wie der ungefähr und ungefährlich klingende Titel ins Deutsche übertragen wurde. (Petra Húlová: “Manches wird geschehen”, übersetzt von Michael Stavaric, Luchterhand, 352 Seiten, 9 Euro) Hier weiterlesen.
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