Über die USA wissen wir allerhand, glauben zumindest eine Menge zu wissen – sind aber oft ebenso nah und fern zugleich wie der große französische Philosoph Jean Beaudrillard 1984 mit „Amerika“. Welche Schlagwörter fallen einem dagegen ein, wenn es ums südlich gelegene Mexiko geht, also jener 120-Millionen-Staat (damit das einwohnerreichste spanischsprachige Land der Welt), aus dem „die Einwanderer“ kommen, wegen der Zäune errichtet worden sind, die aufs Vortrefflichste mit der EU-Außengrenze konkurrieren. Dazu kommt der Drogenkrieg, dem selbst die deutschsprachige Wikipedia eine eigene Seite widmet. – Vier Bücher erzählen auf je verschiedene Weise über Mexiko: aus der Sicht eines Geflüchteten, eines Wahl-Exilanten, eine Weltliteraten und – das bleibt kaum aus – eines Thrillerautors. (Mehr gibt es hier mit Stefan Wimmer: „Der König von Mexiko“).
EINS 1980 brach in El Salvador ein Bürgerkrieg aus, nachdem Militär und Polizei am 22. Januar ein Massaker verübt hatten an jenen Demonstranten, die gegen große soziale Ungerechtigkeit protestieren wollten. Bis 1991 stürzte dieser Krieg das Land in eine Katastrophe. Am Ende wurden 75.000 Tote beklagt. 8000 Menschen gelten nach wie vor als vermisst. Viele Intellektuelle flüchteten während des Bürgerkriegs ins mexikanische Exil, so auch der damalige Journalist und heutige Schriftsteller Horacio Castellanos Moya. Die Sehnsucht der Exilanten jener Zeit wird bereits im Romantitel mit „Ein Traum von Rückkehr“ zusammengefasst. Eben diesen Traum hat der Held des Buchs, ein Ich-Erzähler, der autobiographisch nah ebenfalls als Journalist arbeitet. Der will in die Heimat zurück, hat seinen Job in einer Presseagentur aufgegeben und plant ein Magazin für El Salvador (Moya hat tatsächlich so ein Magazin gegründet), das den Aufbau des Landes publizistisch unterstützen soll. Er will seinem Leben „eine radikale Wendung“ geben. „Regelmäßig Sport wollte ich treiben, um wieder zu
Kräften zu kommen, eine Zeitlang keinen Alkohol trinken und meine ganze Energie auf die Markteinführung dieses Magazins verwenden, es wäre bestimmt auch nur eine Frage der Zeit, bis ich dort die Frau meines Lebens kennenlernen würde.“ Diese radikale Wendung hatten viele Bewohner El Salvadors mit dem Frieden verbunden – tatsächlich verhinderte eine kurz darauf beschlossene Amnestie, dass die fürchterlichen Zeiten je aufgearbeitet werden konnten. Daher passt es, wenn sich der Held dieses Romans in Mexiko einer Psychoanalyse unterzieht und versucht, Verdrängtes aus dem Urgrund seines Bewusstseins ans Tageslicht zu holen, zu verarbeiten. Er begibt sich in die Hände des verrenteten Arztes Don Chente, der in der Heimat besonders bei den Reichen sehr beliebt gewesen war. Don Chente „hatte ins Exil gehen müssen, weil er so unvorsichtig gewesen war, einen Verletzten zu behandeln, der sich im Nachhinein als Guerillakämpfer erwies.“ Der Roman ist eine Erzählung über Geheimnisse, die sich mit eingebildeten Erinnerungen vermischen. Der Erzähler hat Geheimnisse, die er dem Arzt unter Hypnose berichtet, Geheimnisse, von denen er selbst nicht sicher weiß, ob sie auf Eingebildetes oder Wahres rekurrieren. Seine Frau wiederum geht fremd, beichtet irgendwann die Beziehung zu einem Schauspieler und lässt ihren Noch-Mann im Unklaren, wie oft die Sextreffen stattgefunden haben. Auch Don Chente scheint eine zusätzliche Agenda zu verfolgen. Ist er gar ein Spion, der den Ich-Erzähler aushorchen will? Auf wenigen Seiten gelingt es Horacio Castellanos Moya, die misstrauende Verfasstheit seines Landes auf ein subjektives Beziehungsgeflecht zu übertragen und damit das, was in El Salvador seit 1980 geschah, poetisch auch für jene aufzuarbeiten, die weder von besagtem Bürgerkrieg, noch vom Schicksal der Exilanten in Mexiko je gehört haben. (Horacio Castellanos Moya: „Der Traum von Rückkehr“, übersetzt von Stefanie Gerhold, S. Fischer, 176 Seiten, 19,99 Euro)
ZWEI Her mit dem Klischee! Vom Privatdetektiv und Surf-Fan zum gefeierten Autor von Kriminalromanen, die an Surfstränden spielen – das ist die Kurzfassung des Lebens von Don Winslow. Man hat das Gefühl, dass zweimal im Jahr neue Bestseller des Kaliforniers in die Buchläden kommen, darunter „Zeit des Zorns“, ein Titel, der nach brutalem Rachethriller klingt. Aber die Hauptfiguren Ben und Chon sind Kiffer, also vom Prinzip her eher gechillt unterwegs. Nun sind die beiden Jungs nicht nur Kiffer, sondern auch Dope-Marktführer in Kalifornien. Geld ist vorhanden, das sie jedoch höchst unterschiedlich anlegen. Ben, der Öko, investiert seine Kohle in afrikanische Hilfsorganisationen und trinkt nur fair gehandelten Kaffee. Chon, ist absolut kein Öko und sagt: „wenn wir jemanden krumm kommen will, dann boxe ich ihn um.“ – Was dann eines Tages auch tatsächlich passiert. Die Dope-Friends werden von einem Drogenkartell aus Mexiko erpresst, die bislang kein Gras, dafür aber den ganzen anderen Junkie-Dreck vertickt haben. Jetzt wollen die Mexikaner expandieren
und sich auch den Cannabismarkt mit aller Härte unter den Nagel reissen. Nun setz‘ mal zwei Kiffer unter Druck! Die wachen auch im Buch erst so richtig auf, als Ophelia, das Mädchen, das beide lieben, entführt wird. Plötzlich wird ihr Schwarm von den Mexikanern in einem Kellerloch gefangengehalten und die Kiffer werden vor die Wahl gestellt. Sie können Lösegeld zahlen und ihren Cannabis-Markt aufgeben; oder sie können kämpfen. Damit ist man mittendrin, in der „Zeit des Zorns“. Tatsächlich haben sie keine Wahl, weil sie die Kifferkohle verfeiert haben und kein Lösegeld zahlen können. Ihren Markt abgeben wollen sie nicht. Deshalb avancieren sie zu einer Art A-Team in eigener Sache, also: sie überfallen die Geldkuriere des verfeindeten Kartells, um Kampfkapital klar zu machen. Danach inszenieren sie mit Lady-Gaga-Masken einen Überfall auf sich selbst, um zu beweisen, dass es einen Dritten geben muss, der sie beide – die Kiffer und die Mexikaner – ausräumen will. Wer bei „Lammbock“, „Snatch“ oder „Hangover“ ablacht, der liegt bei diesem Buch goldrichtig. Ausgezeichnet mit dem »Deutschen Krimi Preis«, Kategorie International 2012 (2. Platz) und verfilmt von Oliver Stone, mit Taylor Kitsch, Blake Lively, Aaron Johnson u. a. (Don Winslow: „Savages – Zeit des Zorns“, übersetzt von Conny Lösch, Suhrkamp, 336 Seiten, 9,99 Euro)
DREI „Die Nöte des wahren Polizisten“ erzählt die schwule Liebesgeschichte zwischen dem Studenten Padilla und seinem Literaturprofessor (ständig kommen bei Bolaño Literaturprofessoren vor), der sich von dem jüngeren Knaben verführen lässt; und deshalb von der Uni fliegt. Es ist der Beginn einer Geschichte, die von dort aus nach Mexiko führt, in Folterkeller, Schwulenbars, ins räumlich und literarisch Abseitige. Es geht um geheimnisvolle Bücher, die Titel tragen wie „Der Gott der Homosexuellen“. Es kommt ein verwirrender Traum mit der Fußballmannschaft von Real Madrid vor. Es gibt Mörder, Vampirdörfer, ein schillerndes Durcheinander also, so wie man es gewohnt ist von Roberto Bolaño, dem chilenischen Weltliteraten. „Roberto war ein geborener Polemiker. Es gefiel ihm aussergewöhnlich gut, eine andere Meinung zu vertreten. War man mal mit ihm einer Meinung, änderte er sie rasch, um auf diese Weise alle Möglichkeiten eines Themas auszuschöpfen.“ So erinnert sich einer seiner Kumpels an den 2003
verstorbenen Autor. „Die Nöte des wahren Polizisten“ wird inzwischen als der „krönende Abschluss“ seines Werks gesehen und manchmal hat der Nicht-Bolaño-Fan seine Mühe, um durchzublicken ob der vielen Perspektiven, der unterschiedlichen Formen, der mannigfaltigen Figuren, die man teilweise aus früheren Romanen kennt. „Die Nöte des wahren Polizisten“ ist komplex und empfehlenswert für alle, die das Verstehen an sich nicht überbewerten, für alle, die sich dem Impact-Strom aussetzen wollen; die also auch kein Problem haben mit dem grandiosen Film „Inland Empire“ von David Lynch. (Roberto Bolaño. „Die Nöte des wahren Polizisten“, übersetzt von Christian Hansen, Hanser, 272 Seiten, 21,90 Euro)
VIER Der Berliner Techno-Blogger Airen hat im Debütroman „Strobo“ seine Abstürze in den Hauptstadtclubs aufs Papier gebracht. Dann kam raus, dass Helene Hegmann für ihr Debüt “Axolotl Roadkill“ bei ihm abgeschrieben hat. Und “Strobo“, versteckt beim kleinen Sukultur-Verlag, stand schlagartig im Rampenlicht. Airens zweiter Roman mit dem Titel „I am Airen Man“, knüpft dort an, wo “Strobo“ aufhört. Airen nimmt in Mexiko, wo er eigentlich für eine Unternehmensberatung arbeiten sollte, seltsame Cocktails ein wie „Dextromethorpan + Pseudoephedrin“. Er schreibt: „Zwar war ich nicht Pharmakologe genug, um das zu addieren. Aber Junkie genug, um es auszuprobieren.“ Dann hat er auch noch neuen Sex – nicht mehr mit Männern, sondern mit Transsexuellen. Airen schreibt auch anders, nicht mehr so unmittelbar wie in „Strobo“, sondern ein kleines bisschen ruhiger. Es ist der erste Schritt zum neuen Leben: “Ich möchte jetzt, wenn der ganze Trubel abgeflaut ist mit meiner Familie nach Mexiko gehen, in ein ganz kleines Häuschen, irgendwo am Strand von
Chiapas, mit einem kleinen Häuschen, mit Kokospalmen, Hühnern, und runterkommen, schreiben, Musik machen.“ In Mexiko wird Airen einen neuen Blog eröffnen; „Attacke Azteka“ für den Musikexpress. Von Drogen will Airen dann die Finger lassen, nie wieder durch den Staub zu den Sternen gelangen – ab jetzt darf es auch vom Strand aus weitergehen. Mehr gibt es hier. Ob die Sache mit den Drogen geklappt hat? Nunja… (Airen: I am Airen Man, Blumenbar, 176 Seiten, 17,90 Euro)
[…] Es ging um den Roman „Der Traum von Rückkehr“ aus der Zeit des Bürgerkriegs in El Salvador (hier im Blog) und um Peter Handkes Sammlung „Tage und Werke“, vor allem bestehend aus seinen […]
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