Mit „Falscher Frühling“, zwei Tieren und einem technikkritischen Roman zeigen hier vier Debüts die Diversität deutscher Gegenwartsliteratur.
EINS Was würde passieren, wenn Google, Facebook und Twitter gemeinsam eine Weltrevolution anzetteln würden? In diesem Thriller heisst Google zwar „Toggle“ (englisch für Kippschalter) und das soziale Netzwerk hört auf den Fantasienamen „MyFace“ – aber die Internetmacht ist genauso gigantisch wie bei den realen Vorbildern. Geheimbünde, CIA, russische Oligarchen und Superintelligente kämpfen hier mal mit-, mal gegeneinander, nachdem eine bahnbrechende Information kurz davorsteht, die Weltordnung umzustoßen. Durch das groß angelegte Scanprojekt „ToggleBooks“ taucht ein verschollenes Geheimmanuskript aus der Zeit der Europäischen Aufklärung heran. Der Inhalt dieses Buchs, das eigentlich gar nicht existieren darf, führt bald zum ersten Todesopfer („Der Name der Rose“ lässt grüßen). In atemlosen Sprüngen verfolgt man nun den Beginn der vielleicht größten Revolution aller Zeiten. Extrem spannend konstruiert. (Florian Felix Weyh: „Toggle“, Galiani, 440 Seiten, 19,99 Euro)
ZWEI „Ich werde heute acht. Meine Mutter hat einen Kuchen gebacken und ich habe Freunde eingeladen. Nur vier. Eigentlich dürfte ich acht einladen, aber das Geld reich nicht und der Platz.“ In Benjamin Tientis Romandebüt „Raubvogel“ schaut ein freundlicher kleiner Junge mit sehr viel Langmut aufs zerbrochene Elternhaus: Sein Vater hat irgendwie mit Drogen zu tun. Manchmal sitzt er mit Nasenbluten am Waschbecken.
Die überarbeitete Mutter weint. Irgendwann ist Vater weg. Was „Drogen“ sind, erklärt niemand. Naiv erleben die Kinder, wie es ist, beim Schwarzfahren erwischt zu werden und was passiert, wenn ihr Papa „Kassettensalat“ aus Mamas Beatles-Sammlung mit ihnen zubereitet. Welche Konsequenzen hinter ihrem Hartz-IV-Leben steckt, ahnen sie noch nicht. Die letzten Tage der Unschuld. Beklemmend. (Benjamin Tienti: „Raubvogel“, Luftschacht, 110 Seiten, 14,60 Euro)
DREI „Der Pfau“ hat die Charts erobert. Isabel Bogdan ist Übersetzerin (u.a. Nick Hornby, Jonathan Safran Foer), Veranstalterin in Hamburg (Bar 4.0, Trilili) und Bloggerin – zum Beispiel über die Serie „Downton Abbey“, was passt, spielt doch auch „Der Pfau“ in Großbritannien, genauer in den schottischen Highlands. Dort hat der spleenige Lord McIntosh mehrere Cottages in Ferienhäuser verwandelt, um etwas Geld zu machen und aus reinem Übermut fünf Pfauen angeschafft, denn „er stellte es sich hübsch vor, wenn die Männchen auf der riesigen Rasenfläche vor dem Wohnhaus umherstolzierten und Räder schlugen.“ Leider rastet einer der Tiere aus und wird aggressiv. Der Pfau muss weg, zumal sich das Management einer Londoner Privatbank für ein verlängertes Wochenende angemeldet hat – Teambuilding. Eitle Businesskader, Pfauentiere der menschlichen Art, treffen auf die ungezügelte Natur. „Der Pfau“ ist ein tierisch-trivialer Mix aus „Immer Ärger mit Harry“, dem makabersten Teil von Giovanni Boccaccios „Decamerone“ und Werbebildern verschiedener Single-Malt-Spots. (Isabel Bogdan: „Der Pfau“, KiWi, 256 Seiten, 18,99 Euro)
VIER Bonjour Tristesse – dreimal „Falscher Frühling“: In Sascha Rehs Debütroman hoffen Vater, Mutter, Kind an einem Abend auf die große Bühne, den Frühling quasi und sie scheitern auf eine atemraubend melancholische, aber auch komische Weise. Da ist Lothar Lotman, der alternde Theatermann und Frauenheld, einst Skandalregisseur, später Protest-Lachnummer, der in einer bizarren TV-Gameshow seinen ganz persönlichen Mainstreamhorror durchlebt und dennoch an seinen letzten großen Kunstmoment, Goethe lässt rufen, glaubt. Zur gleichen Zeit wird seine baldige Ex-Frau, eine erfolgreiche Bühnenbildnerin, von ihrem dezenten Lover umgarnt, kann sich aber nicht wirklich befreien, sich ausleben und hinüberspringen ins neue Leben, sie steckt in der Vergangenheit fest. Die sehr slow agierende Tochter Franziska datet im Duisburger „HundertMeister“ einen Ruben während des sehr ambitionierten Jazz-Punk-DJ-Konzerts, obwohl sie lieber im „Second Life“ abhängen, ins Netz flüchten würde.
„Ich programmiere Items, die ich an andere User verkaufe. Virtuelle Häuser zum Beispiel. High-Tech-Villen, spanische Finca, chinesische Pagoden. Alles, was man gern haben möchte. Ich bin sozusagen virtuelle Architektin.“ Diesen drei aus gemeinsamen Enttäuschungen und Hoffnungen, Wünschen verbundenen Figuren gibt der bereits mit Preisen ausgezeichnete Sascha Reh eine (Theater-)Bühne, auf der sie ohne quietschig-bunte Effekte erzählen, sich ausbreiten können, vom exhibitionistischen Fahrstuhlsex bis zur Familienbeichte im Restaurant. Ein kluger, unaufdringlicher, fast weiser Spätsommerroman. (Sascha Reh: „Falscher Frühling“, Schöffling, 372 Seiten, 19,95 Euro)