Diesseits des Van-Allen-Gürtels leben die Muttersöhnchen – hier gibt es vier der schönsten Hörbücher der vergangenen Jahre.
EINS Statt „Dinner for one“: mit dem „übernacht“-Hörspiel lässt sich eine neue Silvestertradition begründen. „Ich hab‘ so viel Spass. Wirklich!“ Dass Teenie-Popstar Jan (gesprochen von Tom Schilling) so etwas jemals zur Konditorin Nele (Fritzi Haberlandt) ausrufen würde, war wenige Stunden vor der „Übernacht“ unwahrscheinlich. Doch nach dem Jahreswechsel werden die beiden vielleicht gemeinsam in einer Berliner Wohnung aufwachen. In diesem üppig besetzten Ensemble-Hörspiel von Johanna Steiner dreht sich die verböllerte, verballerte, verrückte erste Nacht des neuen Jahrs um Liebe, Ausrasten, Party, Tränen, Alkohol. Nicht nur Jan und Nele machen das klirrend kalte Berlin unsicher. Ella ist aus den USA zu ihrem Freund geflogen – weil sie schwanger ist. Und Schülerin Audrey (Julia Hummer) stößt im Kiosk erst ein Flaschenregal um – und lernt dann, inmitten Scherben, den charmanten Muslim Serdar kennen. „übernacht“ hat das Zeug zur Tradition, als hippes Gegenstück zum ARD-Klassiker „Dinner for One“. (Johanna Steiner: „übernacht“-Hörspiel, 63 Minuten, Lauscherlounge, 9,95 Euro)
ZWEI “Zitiere nie Max Goldt zum Scherz, denn er fühlt wie du den Schmerz“, warnt Karlo Tober (”Titanic“) auf dem Buchrücken von “Ein Buch namens Zimbo – Sie werden kaum ertragen, was Ihnen mitgeteilt wird“. Aber wenn man die 14 Texte des neuen, von Max Goldt live vor Publikum eingelesenen Hörbuchs anhört, bleiben unweigerlich Zitatschnipsel hängen, denn es geht um Kuriositäten wie den zu Unrecht in Verruf geratenen Snob: “Die deutsche Menschheit schätzt Schuster, die bei ihren Leisten bleiben, doch sie braucht auch Schuster, die nach den Sternen greifen, indem sie zum Beispiel Manufakturen für besonders feine Schuhe gründen und somit anspruchsvolle Arbeitsplätze schaffen.“ In diesem Ton geht es von John Cages‘ “Tosender Stille“ über den Affenblutanteil in unserem Körper zur Verwilderung bei trauriger Musik – und immer auch: Zum feineren Lesen ohne Phrasen. Großartige Doppel-CD. (Max Goldt: “Unsere traurige technische Zukunft“, ungekürzte Autorenlesung, Hörbuch Hamburg, 2 CDs, 19,95 Euro)
DREI Selbst unter den Durchgeknallten des Literaturbetriebs ist Wolfgang Herrndorf eine Ausnahme. So ähnlich könnte ein Zitat aus „Der Weg des Soldaten“ abgewandelt werden, einer der drei großen Erzählungen, die nun, vom Autor selbst gelesen, als Hörbuch erschienen sind. Welt und Wahnsinn treffen hier in 140 Minuten zusammen, als Cultural Scrabble, von Stanley Kubrick in den Weltraum Richtung Hollywood und wieder zurück. Kunsthochschüler, die „in ihrer Jugend zu viel Sonic Youth gehört haben“, treffen auf moderne Mythen über Kannibalen, Kosmonauten und rückwärts gehörte Tondokumente. Das ist lustig ohne Comedy und Kabarett, clever, aber nie auf Quizshow-Niveau. Herrndorf kann Dialoge schreiben und – für ein Hörbuch besonders wichtig – er kann sie auch lesen. Wenn mehrere Autoren- und Popkulturdarsteller auf einer Pornofilmburg in Ostdeutschland kruden Berlin-Mitte-Talk versuchen, bleibt Herrndorf als Sprecher cool, erdet im stets gleichen Tonfall dieses affige Ich-bin-wer-Rauschen und beweist, wer hier die einzig wahre Ausnahme ist. (Wolfgang Herrndorf: „Diesseits des Van-Allen-Gürtels“, Random House Audio, ca. 140 Min, 19,95 Euro)
VIER Der Buch-CD-Band zum 10-jährigen “Chaussee der Enthusiasten“-Jubiläum ist ein Kompendium hervorragender Anfänge. Jeden Donnerstag liest das 6-köpfige Autorenteam in Berlin vor begeistertem Publikum – mit Internet-Liveübertragung für die übrigen Fans. Wer das Beste verpasst hat kann jetzt diese hervorragende Anthologie lesen und sich die beigelegte Best-of-Lesung auf die Ohren schnallen. Beinahe jeder Text erfüllt höchste Stand-Up-Anforderungen. Jochen Schmidt erzählt vom Stress: “Endlich hatte ich meinen neuen Roman fertig,und weil ich mich so damit beeilt hatte, blieben mir nach fünf Jahren Arbeit bis zum meinem nächsten Termin noch zehn Minuten Zeit.“ Andreas Kampa und Robert Naumann lesen mit einer Gebärdendolmetscherin vor Gehörlosen. Dan Richter gibt “Beziehungstipps für Männer“ und Kirsten Fuchs trauert ihrer Liebe hinterher: “Ich schneide mir die Pulsadern auf, dann schlage ich im Erste-Hilfe-Buch nach, wie ein Druckverband geht, und dann mache ich das Bad sauber. Ich telefoniere mit einer Freundin, die sagt, ich solle froh sein, ihn loszuwerden, er wäre ein Muttersöhnchen. Ich finde das nicht. Er ist ja schon erwachsen. Er ist ein Muttersohn.“ (Chaussee der Enthusiasten: “Straße ins Glück“ (Voland & Quist, 144 Seiten Buch + 76 Minuten CD)