Der Entwicklungsroman und seine Variante der Adoleszenzgeschichte gehören zu den interessantesten Genres der Literatur, mit einem besonderen Schwerpunkt in den 1990er Jahren, als die Veröffentlichungen der neuen deutschen Schriftstellerinnen beobachteten, wie überwiegend männliche Helden zwischen 16 („Crazy“ von Benjamin Lebert) und Twentysomething („Faserland“ von Christian Kracht) mit und an ihrem Leben scheitern. Es waren die letzten Jahre, in denen Pop eine Jugendkultur war… Hier gibt es vier weitere Geschichten, die sich mit dem Erwachsenwerden auseinandersetzen.
EINS Der jugendliche Held möchte wissen: „Warum du mich verlassen hast“. Weil der 15-jährige Marko fühlt, hofft und denkt wie jeder Teenager, fragt er natürlich nicht eine konkrete Person, sondern gleich die ganze Welt. Dieser 1970er-Jahre-Kosmos ist ein katholisches Jungeninternat, am Rande des Wallfahrtortes Kevelaer. Hier lebt und leidet Marko. Er leidet an abwesenden Frauen und an einem verschwindenden Gott. Er leidet zwischen Büchern, Beichten, gerösteten Blutwurstplättchen am Mittagestisch und er leidet am Hostienkult der „Schwatten“, seiner Klosterlehrer. Selbstverständlich ist das titelgebende Bibelzitat – eine Paraphrase des Kreuzspruchs Jesu – viel zu hoch gehängt. Aber Markos Weltschmerz wirkt dennoch niemals peinlich. Man soll, man muss lachen über die vielen Abschiede, Enttäuschungen, die dornigen Wege zwischen hohen Mauern. Packen, unprätentiös und trotz 500 üppiger Seiten zu kurz. (Paul Ingendaay: „Warum du mich verlassen hast“, SchirmerGraf, 500 Seiten, 24,80 Euro / dtv, 512 Seiten, 11,90 Euro)
ZWEI Todesszenen beherrschen das Debüt der 1976 geborenen Berlinerin Julia Blesken. Bruder und Schwester wachsen zur Wendezeit in einem kleinen, sterbenden DDR-Dorf auf. Sie spielen am umgekippten See, hinter Friedhofsmauern, der Bruder teilt seine Welt ein in Tiere, die harmlos und welche, die furchteinflößend sind. „Ich bin ein Rudel Wölfe“ erzählt von einer deprimierenden Kindheit bei der depressiven Mama und den alten, todesnahen Großeltern. Hier ist kein Leben. Nebenbei stirbt ein Staat. Der Bruder, irgendwann furchtlos geworden, reißt aus, ins pulsierende, große, laute und lebendige Berlin. Seine Schwester folgt nach. Sie will neu beginnen, heiß wie ein Rudel Wölfe. Talentierte Prosa – ein bisschen zu handzahm für den gefährlichen Titel. Sprachartistik im Schaukelstuhl: dieses Debüt erinnert an einen Birgit Vanderbeke-Text, aus dem jedes Quäntchen Ironie gekürzt wurde. (Julia Blesken: „Ich bin ein Rudel Wölfe“, Jung und Jung, 228 Seiten, 20 Euro)
DREI Poetisch – aber extrem spooky ist “Lichterloh”, ein Coming-of-Age-Debüt der Australierin Sofie Laguna. Es geht um die geistig zurückgebliebene Hester, die von ihren Eltern in einem abgelegenen Haus im Wald großgezogen. Außer einer Kinderbibel besitzt Hester nichts, sie darf nicht rausgehen, sie darf mit niemandem spielen, sie muss an Gott glauben und immer wieder die drakonischen Strafen von ihren Bibelfreaks-Eltern ertragen, sie muss annehmen, die Welt bestünde nur aus diesem Haus und den paar Geschichten, die in ihrer Kinderbibel stehen. Doch dann wird Hester vom Sozialamt befreit, in die Schule gesteckt und mit der Wirklichkeit konfrontiert. “Lichterloh” begleitet das Mädchen auf 170 Seiten bis ins Erwachsenenalter. Das Ganze ist ein bisschen rätselhaft geschrieben, aber von brutaler Wucht. (Sofie Laguna: “Lichterloh”, Fahrenheit, 16,95 Euro)
VIER Vom ausgestoßenen Arschlochkind zum Medienliebling: „Ein Komiker wächst heran“ ist die böse Geschichte eines unfreiwillig bösen Menschen. Die Jugend des 12jährigen Juha wird zur Adoleszenz-Odyssee, die mit dunklen Vorahnungen vom Stapel läuft und schlussendlich im Strudel des Grauens untergeht. Gardell, einer der prominentesten Comedians Schwedens, offenbart hier, in welcher Weise Last und Lachen einander bedingen. Der anrührend unbeliebte Klassenclown Juha wird vom Erzähler (dem erwachsenen, erfolgreichen Bühnenstar Juha) wie eine Gameboy-Existenz über die zweidimensionale Fläche dieser Story manövriert; einer Geschichte, als Brief an den einst gedemütigten Thomas formuliert, deshalb ohne Tiefe, weil in ihr Beweise der inzwischen zur Waffe mutierten Feigheit lauert. Klug gebautes Buch eines melancholischen Zynikers. (Jonas Gardell: “Ein Komiker wächst heran”, übersetzt von Amelie Fichte, KiWi, 256 S., 8,90 Euro)