Die 19-jährige Julia wird nachts von einem sadistischen „Mädchenmörder“ entführt und Richtung Spanien verschleppt. Nachdem sie etliche Morde mitansehen musste und endlich freikommt, schreibt sie: und lügt dabei. Ist sie Opfer, Täter – oder beides?
Das Märtyrium beginnt auf dem Heimweg. Glanzschülerin Julia, vorgeschlagen für die „Studienstiftung des Deutschen Volkes“, ein Elitemädchen ohne Wickelrock, wird von David gepackt, betäubt, entführt. In einem schmutzigen Kellerloch wird sie anschließend geschlagen, erniedrigt, von dem ehemaligen Profi-Radfahrer dressiert, trainiert, zum Tier getrimmt. Anschließend reist der Perverse mit ihr weiter, über die Grenze, nach Spanien. Auf seinem blutgetränkten Weg befriedigt David seine Mord- und Folterlust, immer und immer wieder. Dann wird er gefasst. Während David im Gefängnis auf seinen Prozess wartet, schreibt Julia ihre Erlebnisse nieder. Ein großer Publikumsverlag hat eine Million Euro Vorschuss bezahlt. Die Lust am Leid des Teenagers verspricht hohe Auflagenzahlen. Doch plötzlich keimen Zweifel auf: Ist Julia tatsächlich ein Opfer? Oder fühlte sie sich von ihrem Peiniger angezogen?
Dass die Einser-Abtiurientin auf den gescheiterten Profi-Radfahrer stößt und dieses Aufeinandertreffen Funken schlägt ist nicht verwunderlich. Beide leben im gleichen System. Julia und David denken in ähnlichen Kategorien. Sie sind mit gleichen Werten aufgewachsen. Sie spornte ihren Geist zu Höchstleistungen an. Er quälte sich keuchend über steile Berge. David ist als Mädchenmöder auch ein Mehrfachmörder, der Leichen wie Pokale sammelt. Das Sterben der Anderen hat Medaillenqualität. Doch es gibt ein Problem: Medaillen kann man aufhängen, Pokale in die Vitrine stellen. Leichen lässt man besser im Moor verschwinden. Es ist Davids Sucht nach Beifall, die ihn scheitern lässt. Er versucht, sich ins Gespräch zu bringen. Es erregt den Mann, dass seine Taten auf den Titelseiten rezensiert werden, dass sie sogar den fünften Jahrestag der Terroranschläge in New York überstrahlen. Als Profi-Radfahrer stand er nie im Rampenlicht. Jetzt schaut die halbe Welt auf sein Leben. Und wenn Julias Freundin einmal vorgeschlagen hat, man könne sich doch bei „Germany’s Next Topmodel“ bewerben, bei der Schönheitskonkurrenz des Ex-Mannequins Heidi Klum, dann steckt auch darin der Wille, berühmt zu werden. Julias Buch, ihre Erinnerungen an die Folterungen des europaweit gesuchten Mädchenmörders, sie sind auf die gleiche Art und Weise motiviert – Scheinwerfer an!
Am Ende entsteht der Verdacht, Julia habe sich aus masochistischen, also freiwilligen Gründen dem sadistischen David unterworfen. Immer wieder beschreibt Thea Dorn in ihrem Roman S&M-Szenen: Und es sind nicht irgendwelche Klischeebilder aus dem schwarzen Latexuniversum vereinzelt verstörter Lustsklaven. Es gibt einen Stierkampf, bei dem mehrere tausend Menschen geradezu elektrisiert bejubeln, wie unschuldige Tiere niedergemetzelt werden. Es ist der religiös verklärte Schmerz des Radfahrers, der ein frenetisch applaudierendes Publikum zur Tour de France zieht. Die Körpererfahrung des sich selbst ritzenden Mädchens Julia erinnert frappant an Charlotte Roches‘ Ekelheldin in „Feuchtgebiete“. Der Unterschied: Charlotte Roche kämpft mit ihrem Buch positiv für ein neues, pornographische Bewusstsein, für das Recht der masochistischen Frau, die sich beizeiten überaus gern unterwirft, für eine Körperpolitik, die Tabulosigkeit goutiert. Thea Dorn zeigt dagegen, in welche Abgründe dieser schmerzhafte, Schutzwall niederreißende Weg führen kann.
Der Thriller „Mädchenmörder“ bezeichnet sich selbst als einen „Liebesroman“. Er ist Zeugnis der Liebe zwischen David und Julia. Aber es ist auch die Liebe unserer Gesellschaft, die niederkniet vor Tätern (Amstetten beweist es mal wieder), die sich weidet am Schmerz des Anderen (vom Holocaust-TV-Dauerschock bis zum Leistungssportspektakel), die Medienpräsenz mit Bestätigung verwechselt (Dschungelcamp und Daily-Talks) und die den Unterschied zwischen sexueller Befreiung und flächendeckender Verrohung ignoriert. Alice Schwarzer hat am vierten Mai eine Rede gehalten, als ihr in Frankfurt der Ludwig-Börne-Preis verliehen worden ist. Darin sagt sie über die neuen Feuchtgebiete-Feministinnen: „Und sie lieben ‚geile Pornos‘. Was heißt, sie stehen in der direkten Tradition gewisser Linker, von den 68ern bis zu den Grünen. Die haben zur Verluderung des Feminismus mindestens soviel beigetragen wie gewisse Medien.“ Thea Dorns kluger, mitreißend spannender Thriller „Mädchenmörder“ sagt das Gleiche – mit literarischen Mitteln.
Thea Dorn: „Mädchenmörder. Ein Liebesroman“, Manhattan / Goldmann, 438 Seiten, 19,95 Euro / Das Portraitfoto ist von Wikipedia