„Bis vor wenigen Jahren wurden wir auf medizinischen Kongressen noch aufgrund unserer Arbeit belächelt und kritisiert. Heute findet Internetabhängigkeit in Fachkreisen zunehmend Interesse und erstmals auch offizielle Anerkennung. Im Jahre 2013 wurde die Online-Computerspiel-Abhängigkeit als häufigste Variante der Internetabhängigkeit von einem führenden Gremium von Ärzten und Psychologen der Status als Forschungsdiagnose zuerkannt. Bis zu einer vollständigen Anerkennung ist es jedoch noch ein Stück Weg.“ Das schreibt Bert te Wild, der als Oberarzt die Ambulanz der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie des LWL-Universitätsklinikums der Ruhr-Universität Bochum leitet in seinem neuen Sachbuch „Digital Junkies – Internetabhängigkeit und ihre Folgen für uns und unsere Kinder.“ So viel ist klar: von „Digital Junkies“ geht kein Abhängigkeitspotential aus.
Wer sich in Internet begibt steht mit einem Fuß in der Hölle: Pro-Anorexie-Foren preisen die Magersucht und Suizidportale geben Tipps für den rechten Abgang von dieser Welt. Dazu kommen Cybersex und Pornokanäle. Nicht zu vergessen sind jene Kannibalen wie der berühmte von Rothenburg, die sich im Netz auf die Suche nach neuen Opfern machen. Das Netz kann Schwache abhängig machen, Verängstigte in den Bann digitaler Spielwelten ziehen und den sexuell Devianten auf die Idee kommen lassen: Warum nicht mal einen Menschen essen? Was Bert te Wild, beeindruckt durch seine Arbeit als Psychotherapeut für Internetabhängige, in seinem Buch schildert, klingt monströs. Aber schon der Titel des Buchs hört sich verdächtig nach Hysterie und boulevardeske Emotionalisierung an: „Digital Junkies – Internetabhängigkeit und ihre Folgen für uns und unsere Kinder“.
Natürlich, die Kinder. Unsere Kleinsten müssen bewahrt werden vor einer Netzwelt, die nach te Wild vergleichbar ist mit den Klassikern des Technikpessimismus: Aldous Huxley’s „Schöne neue Welt“, Manfred Spitzers „Digitale Demenz“ und den Kino-Blockbuster „Matrix“. Die Kinder sollen gefälligst „Malen und Basteln, Zeichnen und Rechnen, Lesen und Schreiben“, und zwar bevor sie dies auf Rechnern tun. Vorm achten Lebensjahr hat das Kind vom Netz fernzubleiben. Die Erwachsenen aber sind gut beraten, daheim smartphone-, computer- und fernsehfreie Räume einzurichten und Romane auf Papier zu lesen.
Zu Beginn seines Buchs steht ein Absatz, der wie ein nachträglich erfüllter Wunsch des Lektorats klingt: „Es ist mir dennoch wichtig zu betonen, dass es nicht in meinem Interesse liegt, das Internet zu verdammen. Es geht mir vielmehr um eine im besten Sinne kritische Begleitung und achtsame Gestaltung der digitalen Revolution und nicht um eine Fundamentalkritik am Internet.“ – Selbstverständlich passiert aber 386 Seiten eben das, und zwar in einem Ton, der kaum näher an BILD, Neue Revue und RTL 2-Magazin sein kann: „Es ist traurig aber wahr: Den goldenen Schuss gibt es auch bei der Internetabhängigkeit. Allein in Südkorea, dem Land, in dem Internetabhängigkeit als Erstes zu einem gravierenden Massenphänomen wurde, sind mindestens zehn Personen an den körperlichen Folgen einer Internetabhängigkeit verstorben.“
Obwohl diese Gefahren bekannt sind, begeben wir uns alle ständig ins Netz. Aber dass Heroin sofort süchtig macht, und zwar definitiv, das Surfen und Klicken dagegen erst nach langer Zeit, und zwar lediglich eventuell, scheint te Wild nicht zu interessieren. Sein Text leidet an mustergültiger déformation professionelle. Der Ausnahmezustand, den der Arzt in seiner Klinik tagtäglich kennenlernt wird hier auf die Gesamtbevölkerung übertragen in vielen aneinander gehängten Thesen: Durch das iPhone und seine Kamerafunktion seien wir beispielsweise alle kaum mehr in der Lage, ein Naturereignis unverfälscht und in Ruhe auf uns einwirken zu lassen. Oder: Gaben uns Briefe früher die Möglichkeit eine Nacht über alles in Ruhe nachzudenken oder abzuwarten und Tee zu trinken, so scheinen wir heute willenlos unter dem Zwang zu stehen, ad hoc zu antworten. Dazu kommen die Warnungen von Internetpionieren wie Jaron Lanier: „Angesichts der Tatsache, dass viele Millionen Menschen durch ein Medium miteinander verbunden sind, das gelegentlich die schlimmsten Neigungen hervortreten lässt, ist es keine abwegige Sorge, dass plötzlich riesige faschistoide Mobs entstehen könnten.“
Die meisten Beobachtungen sind schlichtweg falsch. So stimmt es keineswegs, dass im Jahr 2015 weniger als früher gelesen wird. Das Gegenteil ist wahr. Nie wurden mehr Bücher gedruckt als in den vergangenen zehn Jahren, noch nie so viel Text produziert, verschickt, begutachtet wie im Internet. Woher die Annahme kommt, dass wie im Kinofilm „Her“ Computerstimmen alles vorlesen und uns in den digitalen Moloch locken – keine Ahnung. Das Buch dreht vor allem dann immer vollkommen ab, wenn es versucht, ein psychologisch relevantes Phänomen für den Laien aufzubereiten:
„Dass Cybersexsucht bis auf weiteres vor allem in Form von einfachem Pornografie-Konsum ausgelebt wird, dafür gibt es allerdings wohl einen ganz banalen Grund. Zum Suchtverhalten des Cybersexsüchtigen gehört in der Regel die permanente Selbstbefriedigung, wofür aber mindestens eine Hand frei sein muss. Komplexere Formen von Cybersex, bei denen komplizierte Abläufe gesteuert werden müssen, brauchen bis auf weiteres zwei Hände. Solange wir nicht mit dem ganzen Körper in ein Gerät eingepasst sind, stößt die Technisierung des Sexuellen an der Körperlichkeit des Menschen an ihre Grenzen. Gerade was die zukünftigen Produktionen der Sexindindustrie angeht, möchte man sich gar nicht vorstellen müssen, was da noch alles auf uns zukommt.“
Seit Günter Grass gab es keinen eindringlicher erhobenen Zeigefinger. Vielleicht hat te Wild Recht und wir müssen uns tatsächlich viel mehr und häufiger Gedanken über die digitale Revolution machen (die aktuellen Veröffentlichungen, die sich mit dem Neuen auseinandersetzen sprechen zwar dagegen). Putzig wird die Argumentation aber, wenn eine Analogie zur industriellen Revolution so hergestellt wird: „Wir sind dabei, einen Fehler zu wiederholen. Wären wir im Zuge der industriellen Revolution klüger gewesen, hätten wir nicht die massiven Umweltprobleme, die jetzt unseren Planeten bedrohen.“ Dazu kommen Stilblüten wie die, die angeblichen Heilsversprechen des Netzes seien „digitales Opium des Volkes“. Schon lange gab es kein Buch, das so nah an einem Gegenwartsproblem war – und doch so fern von dessen Lösung.