In den Neunzigern mixte das „Jetzt“-Magazin Pop-Lifestyle, Slacker-Romantik und Tipp-Kick-Vibes. Ex-„jetzt“-Redakteur Andreas Bernard schreibt nun über Robbie Williams, Tapes und Liebesschmerz.
Als Tobias Lehnert ein halbes Jahr nach seinem Studium beim „Vorn“ anfängt, ist das Magazin aus München bereits in den Wipfeln des Blätterwaldes angekommen, wo die Luft dünn ist, wo nur die Allerbesten sind. Schüler tapezieren ihre Zimmerwände mit „Vorn“-Covern. Robbie Williams spricht Redakteuren Anrufbeantwortertexte ins Mikrofon. The Notwist, DJ Shadow und Tortoise umgarnen das Heft. Wer für „Vorn“ arbeitet, wird in der legendären „Schumann’s“-Bar bevorzugt bedient, steht bei Modeschauen, Secret-Gigs und Kino-Previews automatisch auf der Gästeliste, wird als Typ von lächelnden Girls umgarnt. Die wunderschönen Redakteurinnen mit ihren Evian-Wasserflaschen repräsentieren elegant Münchens jüngsten Chic.
„Vorn“ erzählt als Schlüsselroman von „jetzt“, der Jugendbeilage der Süddeutsche Zeitung, die vom 17. Mai 1993 bis zum 22. Juli 2002 einen frischen, neuen (Pop-) Journalismus ausstellte. Aus der „jetzt“-Umfeld kommen unter anderem: Benjamin von Stuckrad-Barre („Soloalbum“), Benjamin Lebert („Crazy“), Dana Bönisch („Rocktage“) und Nicol Ljubic („Meerestille“). Die Tagebücher (wie „losleben“ mit Smudo, Max Goldt, Moritz von Uslar“) und Anthologien (wie die Schul-Anthologie „Freistunde“ mit Christian Ulmen und Elke Naters) stehen für eine neue, damals in Deutschland unbekannte Autorenhandschrift.
Die Rezensionen im Heft befreien sich von Musikphrasen und Literaturblasiertheiten. Mehr noch als das jeweilige Werk eines Künstlers stehen Nebensächlichkeiten im Vordergrund und das Tipp-Kick-Ergebnis des letzten Redaktionsbattles findet auch seinen Platz im Heft. In diese neue Welt stößt nun Tobias Lehnert (als Alter Ego von Andreas Bernard), in einer klassischen „Fish out of water“-Situation. Er hört eigentlich die falsche Musik. Sein Lifestyle wird bislang beeinflusst vom Freiwilligenjob in der Flüchtlingsunterkunft. Nun geht es auf einmal um Latte Macchiato, Margaritas (damals ein Novum in deutschen Innenstädten). Als sich 1998 das ICE-Unglück von Eschede ereignet, wird das Szenario verglichen mit der Architektur eines zur gleichen Zeit eröffneten Museums in Barcelona. Dekadenz trifft Pop und nach der Wende interessiert sich niemand für Hitler, Weltkriege und deutsche Geschichte. Die größte politische Demonstration ist kein Sternmarsch zum Bundestag, um gegen Wiederaufrüstungen zu protestieren, sondern das Technofestival „Loveparade“ in der neuen Bundeshauptstadt Berlin.
Genau diese Aufbruchstimmung hat Andreas Bernard in seinem Roman eingefangen und bastelt, auch das typisch für die „Vorn/Jetzt“-Zeit eine Liebesgeschichte hinein. Er sinniert beim Sortieren alter Restaurantquittungen darüber, dass diese Belege nichts von der späteren Trennung verraten, außer die letzte: „Ich habe diese Quittung immer wieder durchgelesen, als wäre sie der Brief eines Verunglückten, verfasst eine Woche vor seinem völlig unerwarteten Tod.“ Er philosophiert über das damalige Mixkassetten-Phänomen (dazu erschienen etliche Texte im „Jetzt“-Magazin) und beschreibt, passend auch zum Sommer 2010, Fussball-WM-Spiele als „verlässliche“ Zeitanker. Und er findet eine unprätentiöse Schlussszene, nach dem ganzen Hype, wenn Tobias seine neue Liebe Jana in den Arm nimmt, „sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter, und gemeinsam gingen sie auf dem in der Morgensonne glitzernden Holzsteg vor zum Wasser.“ Flirrend schön.
Andreas Bernard: „Vorn“, Aufbau, 252 Seiten, 16,95 Euro