Die Insel kann Sehnsuchtsort und Alptraumkulisse sein – entspanntes Urlaubsziel oder vom Untergang bedrohtes Territorium. Auf der längst untergegangenen Nordseeinsel „Strand“ herrscht in Kristin Höllers zweitem Roman dennoch reges Treiben. Was bleibt ist: ein tiefsitzender Schock.
Eigentlich ist dieser Roman eine Unmöglichkeit, spielt er doch auf der längst untergegangenen Nordseeinsel „Strand“, die 1634 in der Buchardiflut zusammen mit dem legendären Handelsort Rungholt vom Meer überspült worden ist. Reste von Strand können noch heute besucht werden – die Inseln Nordstrand, Pellworm und die Hallig Nordstrandischmoor. Doch in Kristin Höllers „Leute von früher“ ist Strand weiterhin Teil der nordfriesischen Insellandschaft, südlich von Amrum gelegen, mit Husum am Horizont, ein Ferienparadies ausgesprochen rückwärtsgewandter Art.
Die findigen Bewohnerinnen und Bewohner haben ihr Reetdach-Idyll zum Freilichtmuseum umgebaut und spielen für zahlungswillige Touristen das Leben früherer Zeiten nach. Pünktlich zum Saisonbeginn landet die 29-jährige Medienpraxis-Absolventin Marlene Rübel auf Strand. Sie heuert in einem Souvenirladen an und will sich „einfach ein halbes Jahr keine Gedanken machen“, dabei übersehend, dass sie in Lebensgefahr schwebt. Auch dass ihr Körper sofort auf die neue Umgebung reagiert, verbirgt Marlene zunächst vor sich selbst.
„Als sie Strand zum ersten Mal betrat, zwickte ihr Unterleib, und sie spürte, dass sie zu bluten begann. Sie hatte keine starken Schmerzen, bemerkte kaum Stimmungsschwankungen, ab und zu vergaß sie sogar, dass sie einen Zyklus hatte. Ihr Körper funktionierte und war unauffällig, aber so hatte sie nie gelernt, in sich hineinzuhorchen.“
Hinter der Kostümgrenze
Dass diese Blutung gleichsam ein Menetekel ist, kann man erahnen – und genauso gut überlesen. Erst im Nachhinein offenbart sich die Zeichenhaftigkeit dieser vorderhand natürlichen Regung. Marlene bezieht ihren Schlafraum in einer der Baracken hinter der sogenannten „Kostümgrenze“, wo ausnahmsweise Alltagsklamotten gestattet sind. Sie wird in die Usancen des Freilichtmuseums unterwiesen, dann historisch kostümiert mit drei weißen Kragen-Blusen und zwei blauen Schürzen, deren Muster „an ein Kaffeeservice“ erinnert.
Ein paar Möwen fliegen über den Deich. Die Landschaft erscheint wie eine Kulisse. Marlene bemerkt ein Schimmern. Irgendwann ist ihr, als schwankte die Insel. Oft wird beschrieben, diese oder jene Regung geschehe lediglich scheinbar. Worin also liegt dieser Schein des ja ohnehin auf Vorspiegelungen ausgerichteten Ferienorts? Schon kommen die ersten Touristen in ihren bunten Allwetterjacken. Die Saison wird eröffnet.
„Marlene war sich sicher gewesen, dass mit den ersten Gästen die Illusion dahin wäre, das Dorf sei ein absurdes Potpourri aus jetzt und früher, aber sie lag falsch: Die Kulisse war überwältigend, jede Person in Polyester bloß ein Glitch, über den man hinwegsah. Die Gäste bewegten sich so andächtig, als fürchteten sie, eine falsche Bewegung könnte die Straße verschwinden lassen. Sogar der Wind blies mit historischer Kraft, rau und echt und maritim, wie vor hundert Jahren. Der Kassierer trug ein Fischerhemd mit aufgesticktem Edeka-Logo. Es war diese Sorgfalt, die Marlene beeindruckte, und die Leichtigkeit, mit der über Widersprüche hinweggesehen wurde.“
Klimakatastrophenliteratur
Glitches sind Programmcodefehler innerhalb eines Computerspiels, visuelle Effekte oder Abläufe, die von den Entwicklern so nicht beabsichtigt waren. In „Leute von früher“ markieren die Glitches einen unmerklichen Einbruch des Magischen. Im Kontrast werden die Landschaften oder Mahlzeiten äußerst profan beschrieben. Der Deich ist ein „müder, grüner Hügel“, die Insel „perfekt und saftig bis zu den Rändern“, der Meeresspargel schmeckt „frisch und salzig“. Das ist Postkartenpoesie. Doch diese absichtlich unoriginellen Betrachtungen leiten auf nur vermeintlich sicheres Terrain. „Jedes Jahr ist das Wasser höher. Jede Flut richtet mehr an. Seit vier Jahren sollen wir einen neuen Deich kriegen, und nichts passiert.“
Eine Art Dammbruch erlebt Marlene während der folgenden Sommermonate. Kopfüber stürzt sie in eine rauschhafte, lesbische Beziehung zur Einheimischen Janne. So kann Höllers Roman über weite Strecken als Generationengeschichte oder Millenial-Panorama gelesen werden, als Portrait einer jungen, emanzipierten Akademikerin heutiger Zeit, als Potpourri aktueller Befindlichkeiten. Der bedrohlich steigende Meeresspiegel deutet auf „Climate Fiction“, auf Klimakatastrophenliteratur hin. Der Ort und sein ausnahmslos hellhäutiges Personal wirken wie eine Persiflage neurechter Identitätsphantasien. Tatsächlich ereignet sich auf Strand, der unmöglichen Nordseeinsel, was keinesfalls der Wirklichkeit zugerechnet werden kann.
„’Das ist ein Brunnen’, sagte Janne und trat näher heran, ‚aus Rungholt.’ Marlene folgte ihr. Die Steine des Rings waren dunkel und verwaschen, und obwohl sie kaum mehr als einen Fingerbreit aus dem Boden ragten, waren sie nicht zu übersehen. Marlene blickte um sich. ‚War der gestern schon da?’, fragte sie. ‚Wir sind doch genau denselben Weg gegangen.’ Janne zuckte bloß mit den Schultern. ‚Weiß nicht’, sagte sie und griff nach ihrer Hand. ‚Die Sachen kommen und verschwinden, wie sie wollen.’“
Eine Fehlsortierung der Pixel
Die Kontingenz des Aufkommens und Verschwindens birgt den Alptraum dieses postmodern anmutenden Spiels. Bereits die unwirklich verschobene Cover-Landschaft deutet an, dass „Leute von früher“ eine Welt des Als-Ob anschaut, die wenig mit dem norddeutschen Realismus im Stile Theodor Storms zu tun hat. Am Ende, zahlreiche Küsse, tausend Tränen und einige erotische Intermezzi später, wird ein furchtbares Foto beschrieben, bei dem nicht auszumachen ist, ob es ein Winken, Dreck oder einen Schatten zeigt „eine Fehlsortierung der Pixel, eine optische Täuschung“. Deutlich ist nichts auf diesem Bild, dafür nach den letzten Sätzen umso klarer, dass „Leute von früher“ eine poetische Intervention gegen das allzu Konkrete, eine Suche nach dem vielmehr Unergründlichen ist. Man verlässt dieses phantastische Buch unter dem noch lange währenden Eindruck eines harten, furchteinflößenden Schocks.
Kristin Höller: „Leute von früher“, Suhrkamp, Berlin, 316 Seiten, 22 Euro