Die Schriftstellerin Ulrike Draesner hat das mittelalterliche Heldenepos „Nibelungenlied“ neu interpretiert und sich mit verschiedenen literarischen Mitteln durch den Stoff bewegt. Ein Gespräch.
Zuvor als Einstieg in jene Welt, die nun immer wieder im Büchermarkt betrachtet werden wird, geht es nach Oxford zu Ulrike Draesner, die nicht nur promovierte Mediavistin ist, sondern auch dort seit vergangenem Jahr lehrt, forscht und an einem neuen Roman arbeitet. Zuletzt bekam Ulrike Draesner im Juli den Nicolas-Born-Preis verliehen. Heute erscheint ihr Band „Nibelungen.Heimsuchung“, Draesners lyrische und essayistische Auseinandersetzung mit dem Nibelungenlied. Frau Daesner, welche Bedeutung haben mittelalterliche Texte weiterhin für uns moderne Zeitgenossen und speziell für Sie? Mich hat am Mittelalter immer etwas angezogen, das die heutige Situation spiegelt, nämlich, dass eigentlich das Ich, wie wir es kennen oder kannten in den letzten 200 bis 300 Jahren, dass es das im Mittelalter noch nicht gibt. Das Ich formt sich erst. Ich glaube, wir leben in einer spiegelnden Zeit, in der sich das Verhältnis zu dem Kollektiv oder der Gesellschaft wieder ändert, allein durch die digitalen Medien und unsere neuen Verflechtungen.
Jetzt gibt es „Nibelungen.Heimsuchung“, und dieses Werkt besteht aus verschiedenen Abschnitten. Es wird eröffnet durch Gedichte, durch epische Prosagedichte, auch die verschiedenen Stellen des Nibelungenliedes haben Sie bearbeitet. Gab es eine Scheu, direkt eine komplette Nachdichtung anzufertigen? Nein. Mich hat an diesem Angebot des Reclam-Verlages verlockt, dass die Form frei gegeben war. Ich hätte auch einen Essay schreiben können. Für mich ist bereits die Formfindung ein Stück der Auseinandersetzung mit dem alten Text. Es sollte keine Übersetzung werden. Ich habe eine Form gewählt, in der die vier wesentlichen Gestalten, Krimhild, Siegfried, Brunhild und Hagen die ganze Geschichte jeweils aus ihrer Perspektive erzählen. Das „Nibelungenlied“ ist sowieso relativ fragmentarisch. Das deckt einen riesen Zeitraum ab und erzählt in einzelnen Szenen, die auf dramatische Art und Weise wechseln. Diese Herangehensweise habe ich betont und verschärft, aber auch etwas mit aufgenommen von dem, was wir in unserer heutigen Welt als Leser und auch als wahrnehmende Menschen gewöhnt sind, nämlich zu fragen nach dem Innenleben der Figuren, das im „Nibelungenlied“, wie in eigentlich dem Großteil der mittelalterlichen Epik, nicht beschrieben wird, eben weil dieses Ich nicht so greifbar, weil es nicht da ist. Es gibt nur Aktion. Ich versuche mithilfe der Gedichte in dieses Innenleben, wie es sich bildet, wie das Ich und die Emotionen sich ausbilden, hineinzusehen anhand dieses dramatischen Stoffes, und am Ende gibt es noch Prosa, die nacherzählt, was im „Nibelungenlied“ geschieht, weil ich mir das immer nicht merken kann.
Damit kommen wir schon zu der Beantwortung jener Frage, die ich unbedingt auch stellen wollte, denn der Anhang wird eröffnet mit einem Satz, der da lautet: „Immer wieder vergesse ich, was im Nibelungenlied geschieht.“ Warum vergessen Sie das. Dieses Fragmentarische scheint eine der Gründe zu sein… Sehen Sie, das ist eigentlich die Frage, die ich mir immer noch stelle, und ich nehme sie wie ein Instrument, um in den Kern dieses Textes vorzustoßen. Ich glaube, da reibt sich etwas aneinander, nämlich die Art und Weise, wie die mittelalterliche Literatur, wie Welt wahrgenommen und wie sie erzählt wird, wie wir Zusammenhänge bauen und erzählen. Ich bewege mich mit verschiedenen literarischen Mitteln durch diesen Stoff: einmal mit Gedichten, dann mit narrativen oder mit epischen Gedichten und dann mit dieser Prosa, die das „Nibelungenlied“ als Roman begreift und als Roman in Pillenform über zwanzigmal wiedererzählt, um seine verschiedenen Aspekte zu beleuchten. Für mich ist dieses Epos immer wie selbst ein Schatzstück aus dem Schatz der Nibelungen erschienen, wie ein großer Diamant; wenn man ihn dreht und wendet, funkelt er immer auf andere Art und Weise. Dazu kann man jetzt die Illustrationen von Karl Otto Czeschka vom Beginn des 20. Jahrhunderts sehen und hat dann ganz verschiedene Wege, wie musikalische Linien, um in diesen Stoff einzutreten und sich von diesem Stoff umstellen zu lassen. Ich sage das etwas holprig, aber das ist eigentlich genau mein Gefühl: Irgendwann steht der Stoff um einen herum und schaut einen zurück an.
Ulrike Draesner: „Nibelungen. Heimsuchung“, Reclam, 132 Seiten, 39,95 Euro