„Der kapitalistische Realismus behandelt die mentale Krankheit als ob sie eine Naturgegebenheit wäre wie das Wetter (obwohl wir wissen, ist selbst das Wetter keine Naturgegebenheit mehr). Eine angeschlagene psychische Gesundheit ist natürlich eine Rieseneinkommensquelle für multinationale Pharmaunternehmen“, schreibt der verstorbene Mark Fisher in seinem Band „Capitalist Realism“ (von 2009), und weiter: „Du bezahlst genau das System für Heilung, das dich ursprünglich krankgemacht hat.“ – Am vergangenen Freitag hat sich der britische Autor, Kapitalismuskritiker und Pop-Vordenker im Alter von 48 Jahren umgebracht. Die Heilungsangebote des Systems waren damit versiegt.
Mit Armen Avanessian, einem der deutschen Vordenker des #Akzelerationismus, also jener philosophischen Denkrichtung, die Fisher in den 1990er Jahren mitbegründet hat, sprach ich am Montagmittag für den „Büchermarkt“ im Deutschlandfunk über Depression, Pastiche-Rock, Burial und self-fullfilling prophecys. – Es gab etliche Nachrufe. Gerrit Bartels schreibt hier im Tagesspiegel: „Aus den Gespenstern der Vergangenheit, aus dem totalen Retro doch noch etwas Zukunftsträchtiges zu generieren, das hatte Mark Fisher sich zur Aufgabe gemacht. Gegen die Gespenster der eigenen, in ihm wütenden Depression war er machtlos.“
Man liest noch einmal das „Gespensterforscher“-Porträt von Thomas Groß in der Zeit und wird erinnert: „Während die technologische Entwicklung durch das Internet und die zugehörigen Kommunikationsgeräte einer schwer begreiflichen Beschleunigung unterliegt, hat der kulturelle Fortschritt sich bis zum Stillstand verlangsamt. Schleichend ist die Idee des Neuen, wie sie die Avantgarden des 20. Jahrhunderts prägte, aus dem zeitgenössischen Denken verschwunden – bis hin zu jenem Zustand, den wir Postmoderne zu nennen pflegen, Fisher zufolge eine ebenso euphemistische wie hilflose Umschreibung für den Sachverhalt, dass die Vorstellung von Zukunft auf die Präsentation des jeweils neuesten Smartphones zusammengeschrumpft ist.“
Der K-Punk-Blog von Mark Fisher, 2003 begonnen, um sich aus der Depression herauszuarbeiten, ist weiterhin online, zeigt als aktuellsten Eintrag aber eine Playlist von 2005: Sade, The Kinks, Dizzee Rascal, eMMplekz, Throbbing Gristle. – Pop als Antidot. Man blättert daheim im Zettelkasten und auf Nummer 401.25 wird Arthur Schopenhauer zitiert: „Der Mensch soll sich über das Leben erheben, soll erkennen, daß alle Vorgänge und Begebenheiten, Freuden und Schmerzen sein besseres und inneres Selbst nicht berühren, daß also das Ganze ein Spiel ist.“ Man blättert in Fishers Aufsatz „Terminator vs. Avatar“, liest dort: „1. Everyone is an accelerationist. 2. Accelerationism has never happend. 3. Marxism is nothing if it is not accelerationist.“
Vor einiger Zeit hat Mark Fisher im Interview erklärt, worum es ihm in seiner Beschäftigung mit der Gegenwart und ihren Gespenstern geht: “Es geht um die Privatisierung von Stress: Hohes Arbeitsaufkommen, Zunahme der Unsicherheit, Gehaltskürzung – all diese Dinge machen depressiv, und wir müssen immer häufiger alleine mit ihnen fertig werden. Im Zeitalter der Kollektivität gab es noch Mediatoren wie Gewerkschaften, die dir dabei geholfen haben, aber heute wirst du zu keiner Gewerkschaft geschickt, sondern zu einem Therapeuten, oder nimm doch einfach Antidepressiva. Das ist die Geschichte der letzten 30 Jahre.“
Armen Avanessian, hier spricht also ein Depressiver über Depressionen – das ist geradezu makaber. In welcher Weise, das, was wir gerade gehört haben, einzuordnen in das Denken von Mark Fisher? Ich denke, ganz grundsätzlich, was ihn zu einem markanten Denker gemacht hat, war, dass er diese anscheinend oder angeblich rein persönlichen Phänomene wie Depressionen, psychische Krankheiten, auch als gesellschaftliche, als politische Probleme verstanden hat. Mark Fisher hat ganz stark zeitpolitisch gedacht und ausgehend von der Hypothese, dass wir möglicherweise noch gar keine wirkliche intellektuelle oder politische Kultur haben, die dem 21. Jahrhundert und der neuen Politik dieses Jahrhunderts zugehörig ist. Von Mark gibt es den berühmten Spruch, dass es in unserer neoliberalen Gesellschaft leichter ist, sich den Untergang der Welt vorzustellen als denjenigen des Kapitalismus. Ein Beispiel sind die dystopischen Hollywoodfilme. Für ihn war das ein Zeichen dafür, dass uns ein wirkliches Bewusstsein fehlt, ein genaues Verständnis dessen, was – mit dem Titel seines berühmtesten oder bekanntesten Buchs gesprochen – der „Capitalist Realism“ eigentlich ist. Von daher kam bei ihm diese Suche nach neuen Denkformen, nach Strategien, um sich von dem kritischen oder ironischen Gestus des 20. Jahrhunderts zu unterscheiden. Das betrifft seine bekannten Analysen zur Musik – Blur, Oasis oder was er ma Pastiche-Rock genannt hat –, aber auch zu anderen intellektuellen Produktionen. Das war nie nur eine inhaltliche, sondern stets auch eine formale Frage; wie zu schreiben, wie zu denken ist, wobei das bei ihm nie negativ oder nur ressentimentgeladen war. Er war stets ein Begleiter oder Stichwortgeber zeitgenössischer Musiker oder intellektueller Strömungen, also Bands wie Burial oder Code 9 oder als Denkrichtung, der Akzelerationismus, den es ohne ihn nicht gäbe. Man könnte zusammenfassen, dass er ein Streiter, dass er ein Kämpfer war gegen die verheerende Formel in unseren Köpfen, dass die Moderne gleich kapitalistisch, gleich fortschrittlich, gleich Beschleunigung ist. Mark hat sich immer dagegen verwehrt, die Moderne mit dem Kapitalismus zu identifizieren, geschweige denn, den Kapitalismus als fortschrittliches System zu verstehen; sondern eher als eines, das uns krank macht.
Eine dieser Krankheiten des Kapitalismus ist die Depression, unter der er selbst gelitten hat. Mark Fisher hat es immer wieder geschrieben, dass er als Depressiver gleichzeitig vom kapitalistischen System aufgefangen und als Kunde angesteuert wird. Der Depressive bekommt nämlich Medikamente, die wiederum von Pharmariesen hergestellt werden, der Kapitalismus verdient noch an der Heilung jener Krankheit, die durch ihn verursacht ist. So war seine Art zu denken, so war seine Art zu argumentieren. Sie sagten gerade, der #Akzelerationismus sei ohne ihn nicht denkbar. Das ist eine relativ neue philosophische Strömung. Wie würden Sie, als einer ihrer Vordenker, diesen #Akzelerationismus definieren? Vielleicht muss man was zum intellektuellen Hintergrund von Mark Fisher undem dem #Akzelerationismus sagen. Mark war Teil eines ganz wichtigen Kollektivs in den 90er-Jahren in Warwick, das sich mit populärkulturellen Phänomenen auseinandergesetzt hat. Die haben eine ganze Batterie an neuen Gedanken, neuen Begriffen, aber auch neuen intellektuellen Strömungen oder Bewegungen getriggert. So viele gibt es noch nicht im 21. Jahrhundert und fast alle, die meisten sozusagen, kommen aus diesem Kontext. Mark Fisher war hier maßgeblich beteiligt, auch wenn das weniger bekannt war und er nicht namentlich da firmiert, weil vieles anonym oder im Kollektiv geschrieben wurde … heraus kamen Strömungen wie der Spekulative Realismus, der von #Akzelerationismus, bis hinein in die feministische Theorie, so etwas wie ein akzelerationistischer Technofeminismus oder Xenofeminismus. Die haben alle ihren Hintergrund in der Arbeit dieses CCRU-Kollektivs (Cybernetic Culture Research Unit), von denen einer der wichtigsten Mitglieder Mark Fisher war. Die Grundidee ist, dass wir den gegebenen technologischen Stand, beziehungsweise denjenigen der Wissenschaften nutzen sollten, um den Kapitalismus zu überwinden, indem man die vorhandenen emanzipatorischen, progressiven Tendenzen aufnimmt und steigert; eben nicht bremst, nicht entschleunigt, indem man sich nicht versteckt. Für Mark Fisher war immer bedeutend, dass man eine Faszination entwickelt für Technologie, für Populärkultur, um diesen starken Drang, um dieses Begehren, diese Diskurse, diese Technologien, auch diese Erlebniswelten in das Schreiben, in das Nachdenken, in die Philosophie zu integrieren. Das führte dann zu Aufsätzen, die sich mit Schwarzenegger und Kant beschäftigen oder mit Terminator und Avatar, zugleich aber zeitgenössische Philosophie machen. Das war der Spirit, mit dem Mark Fisher gedacht, geschrieben und gelebt hat.
Mit „Terminator versus Avatar“ sprechen Sie etwas sehr Wichtiges an, weil Mark Fisher vor allem positive Effekte nutzbar gemacht hat. Weshalb war dann denn die Depressionen sein Lebensthema? Warum ist er nicht geblieben bei Schopenhauers „Willen zum Leben“ der ebenso angesprochen wird in dem Aufsatz „Terminator vs. Avatar“? Mark Fisher hätte sich diesem Hedonistischen des Da-Seins und der Popkultur auch auf total positive Art und Weise öffnen können. Weshalb gab es diesen permanenten Depressionsdiskurs was Fisher gemeinsam hat mit anderen popkulturell interessierten Denkern, wie mit seinen Namensvetter Mark Fischer aus Deutschland oder mit David Foster Wallace, die sich beide ebenfalls umgebracht haben. Also, in Ihrer Beschreibung klingt das ein bisschen so, als ob er sich von diesen persönlichen Problemen nicht lösen konnte, als ob das eine Art von self-fulfilling prophecy gewesen wäre, diese Beschäftigung mit der Depression; und auch sein Tod. Ich möchte mich aus zwei Gründen verweigern, das so negativ oder deterministisch zu sehen. Einer dieser Gründe ist abstrakt-philosophisch, der andere persönlich. Philosophisch betrachtet, war Mark kein deterministischer Denker. Er hat die Zukunft nicht als eine automatisierte, also eine verengte, also determinierte verstanden, sondern er hat versucht, aus der Zukunft zu denken. Er hat diese spekulative Temporalität wirklich gelebt und verstanden, was James Graham Ballard gemeint hat, als er Science Fiction nicht nur als das realistischere Denken bezeichnet hat, sondern auch als notwendige Spekulation, um die Gegenwart zu verstehen. Das ist lange bevor alle über Algorithmen, fake truth oder Postfaktisches geredet haben. Mark hat wirklich Science-Fiction-Denken praktiziert, den Begriff der „hyperstition“ geprägt oder mitgeprägt, im Sinne von Fiktionen, die sich selbst aus der Zukunft heraus realisieren. Der zweite Grund ist persönlicher Natur; warum ich mich weigern will, seinen Tod und sein Denken auf seine Person limitiert zu sehen. Sein Tod ist nicht nur ein persönlicher, sondern auch ein politischer Skandal in Zeiten von Brexit und Trump, von zunehmender Xenophobie, Rassismus und den dafür stark verantwortlichen oder mitverantwortlichen Austeritätsprogrammen. Da kann man das Persönliche – und das hat Mark Fisher uns gelehrt – nicht vom Politischen trennen. Er hat immens offen über seine Krankheit geschrieben, über die Depressionen, darüber, wie dagegen zu kämpfen wäre, nicht nur auf einer persönlichen, subjektiven und individuellen Ebene. Bei aller Wertschätzung seiner Kritik, seiner Problematisierung von individual-psychologischen oder psychoanalytischen Ansätzen, hat er immer darauf hingewiesen, dass wir vor einem allgemeinen gesellschaftlichen Problem stehen. Er hat dieses Problem bezeichnet als eine „Depolitisierung von Depression“ oder die „Privatisierung von Stress“, von psychischen Krankheiten. Er hat gesprochen von der Pest der psychischen Krankheiten in kapitalistischen Gesellschaften. Mark Fisher hat es immer vermocht, das sehr persönlich zu schildern anhand von alltäglichen Erfahrungen oder Gefühlen: die Schuldgefühle, die man hat, wenn man keinen Job hat, Schuldgefühle, die man sich selber zuschreibt, statt sie als ein politisches Problem zu erkennen; was auch dazu führt, dass man sich nicht politisch organisiert. Das war eines seiner großen Ziele und Arbeitsfelder: ein neues, ein wirkliches Klassenbewusstsein wieder hervorzubringen.
Vor zwei Wochen ist Fishers „The Weird and the Eerie“ erschienen. In welcher Weise wird er Ihrer Meinung nach akademische oder popkulturelle Diskurse in der nahen Zukunft beeinflussen? Ich denke, das ist ein doppelter Einfluss. Für alle, die ihn kannten, war es irgendwie beglückend zu sehen, dass sein „Capitalist Realism“-Buch so einen großen Erfolg hatte. Das heißt, mit einem Independent-Verlag, ohne Werbung, ohne mafiöse Seilschaften zu den offiziellen Medien – diverse Dinge, die er hasste – dass das Buch so stark rezipiert wurde, dass seine Texte wahrgenommen wurden, auch seine popkulturellen Texte, und dasselbe hoffe ich auch für das neue Buch. Eine andere Art und Weise, wie er wirken wird, denke ich – und das ist vielleicht bezeichnend für so einen bescheidenen oder undergroundigen, untergründig wirkenden Mensch wie Mark Fisher – bestimmt durch die von ihm geprägten Begriffe wie capitalist realism, accelerationism, hyperstition. Er hat mir im Gespräch selbst gesagt – das geht, denke ich, auch aus seinen Texten hervor –, dass Suizid keine Lösung, dass es eher eine Aufgabe ist, gegen die Depression zu kämpfen, anders zu arbeiten, und dieser Imperativ, denke ich, wird auch weiterwirken.
Armen Avanessian: „Miamification“, Merve Verlag, 2017. 136 Seiten, 12,00 Euro / Mark Fisher: „Gespenster meines Lebens. Depressionen, Hauntology und die verlorene Zukunft“, edition TIAMAT, 2015. 256 Seiten, 20,00 Euro / Mark Fisher: „Kapitalistischer Realismus ohne Alternative?“ VSA Verlag, 2011. 96, Seiten, 12,80 Euro / Mark Fisher: „The Weird and the Eerie“, Repeater, 300 Seiten, 10,99 Euro / Hier geht es zum DLF-Audio des Interviews und zum „Kultur heute“-Kommentar vom 16. Januar.
Hinweis: Denkst Du daran, Dir das Leben zu nehmen? Dann sprich mit anderen Menschen darüber. Es gibt Hilfsangebote in vermeintlich ausweglosen Lebenslagen: Die Telefonseelsorge bietet Gespräche per Telefon, Chat oder E-Mail. Geistliche Vertreter, Psychologen oder andere Vertrauenspersonen können in persönlichen Gesprächen helfen.