Seit Ferdinand von Schirachs Millionenerfolg „Verbrechen“ überschwemmen nacherzählte Kriminalfälle den deutschen Büchermarkt. Jetzt eifern zwei Neuerscheinungen, dem Berliner Rechtsanwalt nach – und kopieren Schirach bis ins Detail.
„Ich habe Ingrid kleingemacht. Kommen Sie sofort.“ Mit diesen Worten zeigte sich 2009 ein pensionierter Arzt bei der Polizei von Rottweil an. Es war der Höhepunkt von „Fähner“, der ersten Geschichte Ferdinand von Schirachs. Die wahren Fälle des Berliner Rechtsanwalts wurden danach in mehr als 30 Sprachen übersetzt. Im Februar 2012 meldete sein Verlag Piper, dass sich „Verbrechen“, „Schuld“ und „Der Fall Collini“ über eine Millionen Mal verkauft haben.
Dieser Megaerfolg ist nicht nur literarisch begründet. Schirach erzählt aus einem verborgenen Berufsalltag. Was Anwalt und Mandat besprechen unterliegt im wahren Leben der Schweigepflicht. Die Pointe eines Verbrechens wird im Prozess selten erzählt. Zu oft würde sie das Urteil revidieren. In den Gerichtsgeschichten, die inzwischen massenhaft im Schlepptau der Schirach-Bücher erscheinen, wird das Verbrechen um diese unerzählte Pointe verlängert. „So ist es wirklich“, denken wir, längst darauf trainiert, hinter jeder Nachricht eine verborgene Wahrheit zu vermuten.
Zu den gruseligsten Geheimnissen gehört die alte Whodunnit-Frage? Im Wochentakt erscheinen in deutschen Verlagen bereits seit zweieinhalb Jahren „die härtesten“, „die spektakulärsten“ und „die aufsehenerregendsten“ Fälle von Rechtsanwälten, Richtern, Kriminalhauptkommissaren. Hier darf der Mörder genannt werden, hier ist er Mensch. Die Autoren wähnen sich im Besitz herrschaftlichen Wissens. „Ich arbeite direkt an der Front und habe viele Facetten und Abgründe menschlicher Verhaltensweisen kennengelernt“, brüstet sich Polizist Toni Feller („Das Gesicht des Todes“). Seine „authentischen Mordfälle“ werden bereits in der 4. Auflage ausgeliefert. Das lohnt.
Geht eine Idee auf, wird sie vom Buchmarkt kopiert. Üblicherweise verkauft sich der Aufguss eines Top-Ten-Hits immer noch besser als die raffinierteste Highbrow-Novelle eines genialischen Debütanten aus den Schreibschulen Leipzig oder Hildesheim. „Fifty Shades of Grey“ gibt SM-Büchern wie „Lustschmerz“, „Schöner leiden“, „Lessons in Lack“ die Sporen. Nachdem in Folge von „Harry Potter“ die halbe Welt verzaubert und „Twilight“ alle Vampire aus ihren Gruften entlassen hat, verknüpfte die Fantasyreihe „House of Night“ Zauberinternat und Vampirschmonzette auf nahe liegende Weise: und erzählte aus einem Vampirinternat. Gesamtauflage in Deutschland bis jetzt: Satte Zwei Millionen verkaufte Exemplare.
Ähnliches passiert seit dem Erfolg der drei Schirach-Bände. Der deutsche Buchmarkt hat eine neue Cash Cow entdeckt, die so genannte „True Crime Fiction“. Es sind Geschichten, die auf wahren Verbrechen beruhen. Denn „die Wirklichkeit ist packender als jeder Krimi“. So warb der Heyne Verlag bereits 2011 für „Abgründe – Wenn aus Menschen Mörder werden“, vom „legendären Mordermittler“ Josef Wilfing. „Üblicherweise hat das zweite Me-too-Buch noch Erfolg, das dritte etwas weniger, das vierte floppt“, sagt Margit Ketterle, verantwortliche Lektorin der Sachbuchabteilung von Knaur, „bei True Crime beobachten wir aber, dass sich sogar das 14. und das 15. ähnlich gelagert Buch weiterhin verkauft.“
Zwei Neuerscheinungen dieses Herbstes kupfern nun auf besondere Weise bei Schirach ab. Sie stehen beispielhaft für eine verlegerische und literarische Strategie, die ins Absurde gedreht wurde: „Am Dienstag habe ich meinen Vater zersägt“, von Gerichtsreporterin Uta Eisenhardt, und „Mord – Geschichten aus der Wirklichkeit“ des forensische Psychiaters Hans-Ludwig Kröber (erscheint am 21.9.).
Eisenhardt schrieb bei stern.de die Kolumne „Icke muss vor Gericht“. Daraus extrahierte sie bereits 2011 ihr Buch „Es juckt so fürchterlich, Herr Richter – die skurrilsten und schrillsten Fälle aus dem Gerichtsalltag“. Nun folgen „die härtesten Fälle einer Gerichtsreporterin“, die bereits im Titel erinnern an Schirachs „Ich habe Ingrid kleingemacht“. Der Buchhändler soll schließlich wissen, auf welchen Genretisch „Am Dienstag habe ich meinen Vater zersägt“ gelegt werden muss.
Die Coverfarben sind Rot, Schwarz, Lichtgrau, Weiß, passend zu Schirachs „Schuld“-Cover. Praktischerweise deckt sich die Farbwahl mit „Mördermann“ von Strafverteidiger Uwe Krechel aus dem Bücherfrühjahr, das vom Heyne-Verlag damals mit den Worten „für Leser von Josef Wilfing und Ferdinand von Schirach“ angekündigt wurde. Krechel in seinem Buch: „Ich bin der letzte Anker, der Libero, der mit gestrecktem Bein vielleicht den falschen Pass verhindert, der den Mandanten in die Zelle führt.“
Es beschleicht einen die Frage, ob man den 18,50 Euro teuren Schirach austauschen kann gegen die 8,99-Euro-Taschenbücher von Uta Eisenhardt, Toni Feller, Robert Glinski und weiteren Vertretern des Genres. Bei anderen Konsumartikeln wägt man doch auch ab: Muss der Joghurt zwangsläufig von Bauer, das Sportdress von Nike, die Uhr von Glashütte sein?
Denn gerade bei Uta Eisenhardt bekommt man besonders viel Schirach fürs Geld. Ihre Geschichte „Therapie mit Todesfolge“ erzählt einen Fall nach, den Schirach ab 2009 als Rechtsanwalt vertreten hat. Ein Berliner Allgemeinarzt und Psychotherapeut hat damals aus Versehen zwölf seiner Patienten mit einer Bewusstsein erweiternden Droge vergiftet. Über diese Sache wurde in allen Medien berichtet, sie könnte als toderzählt gelten. Doch Uta Eisenhardt gelingt ein postmoderne Kunststück. Auf Stilebene kopiert sie den Autor Schirach, auf Inhaltseben literarisiert sie den Rechtsanwalt Schirach.
Ihr Hinweis, „Parallelen zu lebenden Personen sind selbstverständlich nicht beabsichtigt“, ist nichts anderes als ein Gag. Ferdinand von Schirach schreibt, auf „Therapie mit Todesfolge“ angesprochen: „Verzeihen Sie bitte, aber ich mag mich nicht dazu äußern. Man sollte solche Dinge gelassen nehmen, das scheint mir die vernünftige Haltung.“
Dass Eisenhardts Story „Eine stumme Bitte“ sehr stark an Schirachs Geschichte „Das Cello“ erinnert, muss man vermutlich ebenfalls „gelassen nehmen“. Vielleicht ist alles nur Zufall – oder sogar ganz kühl erklärbar? „Krimis sind das strukturkonservativste Genre das es gibt, vor allem deshalb, weil es stets um die Wiederherstellung gestörter, zumeist bürgerlicher Ordnungen am Ende geht“, sagt Andreas Blödorn, Krimispezialist und Germanistikprofessor an der Universität Münster. Nach seiner Beobachtung liegen „Realitätsnähe und Epigonalität in Bezug auf etablierte Genremuster strukturell zu den Erfolgsrezepten guter Krimis.“
Laut Blödorn haben Me-Too-Krimis Tradition: „Das war schon bei Doyle, Christie und Wallace so.“ Außerdem kann sein, dass die deutschen True-Crime-Produzenten lediglich Krimi-Edelfeder David Peace („Tokio, besetzte Stadt“) nacheifern, der Anfang 2010 von seinen Autorenkollegen die konsequente Hinwendung zur Realität gefordert hat: „Im richtigen Leben passieren so viele Dinge, die wir nicht verstehen oder ergründen können. Ich erkenne den Sinn erfundener Krimis nicht.“
Somit bewegt sich der renommierte forensische Psychiater Hans-Ludwig Kröber mit seinen „Geschichten aus der Wirklichkeit“ im geforderten Soll. Auch bei ihm erinnert das Cover an Ferdinand von Schirach – ist ebenso wie „Verbrechen“ in Rot-Weiß-Schwarz gehalten. Der Aufbau seiner Mordfälle baut Schirach-Plots selbstähnlich nach. Sprachlich holpert es hier und da („1976 starb Fritz die Mutter“). Eine Kaffeemaschine auf dem Kühlschrank „hustet“ eine neue Kanne heraus. Zum Personal gehört unter anderem „die gutaussehende, erfolgreiche Hotelkauffrau mit sicherem Auftreten“.
Da hat man alles probiert, um dem Original nachzueifern – und es geht schief. Sogar ein Anfangszitat hat Kröber gewählt, das dräuend auf die folgenden Schrecken hinweisen soll. Es ist ein Satz aus Dostojewskis „Verbrechen und Strafe“, auch bekannt als „Schuld und Sühne“, womit man die ersten beiden Schirachbücher sogleich mitgenannt hätte. „Wichtiger als Moden ist bei Krimis, dass sie bestimmte, eingeführte Genremuster bedienen, etwa des Rätselromans, des hard boiled-Stils oder des Soziokrimis der 70er und 80er“, sagt Andreas Blödorn.
Abschliessen kann also festgestellt werden: Die lang andauernde True-Crime-Welle ist nicht weniger als die perfekte Melange aller genannten Krimigenres. Die Werke sind rau wie ein hard boiled-Stück, beleuchten geradezu rührend verschiedenen Milieus und als intertextuelles Rätsel steckt in nahezu jedem Buch die Frage: „Wie viel Schirach darf es heute sein?“
Uta Eisenhardt: „Am Dienstag habe ich meinen Vater zersägt“, Fischer, 266 Seiten, 8,99 Euro / Toni Feller: „Das Gesicht des Todes“, Heyne, 320 Seiten, 8,99 Euro / Robert Glinski: „Angeklagt“, Ullstein, 256 Seiten, 8,99 Euro / Uwe Krechel: „Mördermann“, Heyne, 262 Seiten, 19,99 Euro / Hans-Ludwig Kröber: „Mord“, Rowohlt, 258 Seiten, 18,95 / Stephan Lucas: „Auf der Seite des Bösen“, Knaur, 266 Seiten, 8,99 Euro / Helga Schimmer: „Mord in Wien“, Haymon, 174 Seiten, 9,95 Euro / Josef Wilfing: „Abgründe – Wenn aus Menschen Mörder werden“, 320 Seiten, 8,99 Euro / Josef Wilfing: „Unheil – Warum jeder zum Mörder werden kann“, Heyne, 19,99 Euro