In ihrem 85. Lebensjahr gelingt der spätberufenen Schriftstellerin Ulrike Edschmid einer der Suhrkamp-Spitzentitel dieses Bücherherbstes. In ihrem kurzen Bravourstück „Die letzte Patientin“ treffen zwei versehrte Frauen aufeinander: fatalerweise ist die eine die Therapeutin der anderen.
Das narzisstische Ich steht schon länger im Zentrum unserer westlich geprägten Kulturlandschaft. Nach der säkularen Ausräumung des Götterhimmels, die im Zuge der Aufklärung stattgefunden hat, erhöhte sich die Menschheit selbst. Nicht nur die äußere, sondern auch die innere Welt sollte fortan erforscht werden. Sigmund Freud, Carl Gustav Jung und Wilhelm Reich präsentierten für diese Seelernzergliederung die ersten psychoanalytischen Instrumente. Es passt daher, dass Ulrike Edschmid ihre neue Geschichte von einer Ich-Erzählerin vortragen lässt. Diese berichtet allerdings nicht über sich selbst, sondern verfolgt den Weg einer erlebnishungrigen Sinnsucherin und spätberufenen Therapeutin, die irgendwann auf ihre letzte und herausforderndste Patientin treffen wird.
„Zu Beginn des Winters im Jahr 1973, den ich als ungewöhnlich kalt in Erinnerung habe, war sie in Frankfurt in die Wohngemeinschaft gekommen, in der ich damals mit meinem Kind lebte. Von einem Mann verlassen, hatte sie ein Zimmer gesucht. Aus Luxemburg war sie fortgegangen, weil sie das Land, in dem sie geboren wurde, und das Leben und die Ansichten ihrer Eltern nicht ertrug.“
Promiskuitive Tour d’amour
Wer mit der autobiographisch angelehnten Erzählweise Edschmids vertraut ist, wird sich erinnern, dass die Autorin ebenfalls in den 1970er Jahren in einer WG gewohnt hat – nach dem Ende ihrer ersten Ehe. Ob die damaligen Erlebnisse in irgendeinem Bezug zur erfundenen Geschichte stehen, ist allerdings fraglich. Drei Jahre lebt die neu hinzugekommene, unsicher gebundene Frau in besagter Wohngemeinschaft. Scheinbar mühelos absolviert sie ein Geschichts- und Französischstudium und „verliebt sich in einen spanischen Anarchisten, der wegen der Herrschaft des General Franco aus seinem Land geflohen war und den sie nur unter seinem Tarnnamen kennt.“ Das schnelle Ende dieser rätselhaften, schwankenden Beziehung ist der Anfang einer zwei Jahrzehnte währenden Tour d’amour durch zahlreiche Betten unterschiedlicher Männer. Zunächst reist die Frau nach Barcelona, von dort über Mexico City und Guatemala nach Costa Rica, Bolivien, Paraguay und Argentinien. Sie wechselt das Terrain ebenso oft wie ihre Partnerschaften.
„Wärme sei das Einzige, was sie von einem Mann wolle. Jedes Verlassen aber liefere sie aus an das Nichts. Und jedes Mal gehe eine Heimat verloren, die sie nie hatte. Sie zwinge sich, dieses Nichts auszuhalten, es genau zu betrachten, damit es seinen Schrecken verliere. Aber es verliere seinen Schrecken nicht. Es bleibe eine graue, kriechende Einsamkeit, kalt wie die Stube, in der ihr Kinderbett stand, sauber, ordentlich und leer.“
Bewegungen einer Entwurzelten
Sie ist weder fähig, dauerhafte Beziehungen auszuhalten, noch ist sie zum Alleinsein begabt. Wird sie schwanger, treibt sie ab, erscheint ihr eine Beziehung allzu eng – flüchtet sie. Offensichtlich maligne narzisstisch erkrankt begehrt sie gleichzeitig eine echte Verbindung, die jedoch Utopie bleiben muss. Ihre Odyssee erscheint so als höchst fragiles Ausweichmanöver vor der Erkenntnis des eigenen Selbst. Edschmids Roman protokolliert in äußerst knapper Sprache die Such- und Fluchtbewegungen einer entwurzelten, dem praktischen Leben entrissenen Figur. Es lohnt der genauere Blick auf die verschiedenen, sich im Lauf der Geschichte wandelnden Bewegungsarten, die Kreis-, Hand- und Augenbewegungen, bis hin zur Bewegung der Lippen, die kurz vor Ende eine ungeheuerliche Begebenheit bannen. Nach jahrelanger Hast, zurückgekehrt in die katalanische Hauptstadt, leidet die Frau unter Brustkrebs. Sie versteht die Krankheit als Metapher, ändert ihr Leben radikal und beginnt ein spätes Studium der Psychologie.
„Sie macht alles auf einmal. Sie studiert, beginnt eine Psychotherapie und eine mehrere Jahre dauernde körpertherapeutische Ausbildung. Sie wird Teil einer Theatergruppe, in der sie zeigen muss, was sie kann und was sie nicht kann. Sie erprobt sich, wie sie es noch nie getan hat, und sie traut sich, was sie sich nie getraut hat. Sie ist wie besessen, will alles wissen, begibt sich mit neuem Instrumentarium auf eine Forschungsreise in ihr Inneres und zerlegt das, was ihr stets als Unglück den Blick versperrte, in überschaubare Einzelteile.“
N wie Niemand
Das menschliche „Ich“ bleibt das größte Geheimnis der Welt – und selten wurde diese freudianische Erkenntnis ähnlich konzise wie eben hier auf den Begriff gebracht. Mit einer tief erkennenden, an die psychologische Meisterschaft Arthur Schnitzlers erinnernden Prosa steuert Edschmids Geschichte auf ihren knapp referierten Höhepunkt zu, die Therapie ihrer letzten, äußerst herausfordernden Patientin – eine drogenabhängige, sechszehnjährige Frau. Sie ist Ausreißerin wie ihre Therapeutin, zwei Jahre zuvor aus dem zerrütteten Elternhaus in die Obhut des Sozialamts geflohen. „Schwer traumatisiert, hatte die Leiterin der Anlaufstelle gesagt, sei ihr Inneres angefüllt mit Schreckensbildern. Wie zum Fluch hatten die Eltern ihr einen Namen aus einem antiken Drama gegeben. Es ist der Name einer Gestalt, der niemand glaubt. Meine Patientin aber glaubte auch sich selber nicht. Ich werde sie N. nennen, sagt sie, N. wie Niemand.“
Man muss weder die mythologische Kassandra, noch Christa Wolfs Erzählung aus dem Jahr 1983 kennen, um den weit gespannten, mehrfach aufgeladenen Horizont dieser Begegnung zu erfassen. Doch wie Kassandra leidet auch diese „N. wie Niemand“ an einer Innenwelt, die ihrem Umfeld unglaubwürdig erscheinen muss. „Ein Ereignis an sich sei kein Trauma. Ein Trauma definiere sich dadurch, wie es erlebt werde. Erinnerung allein mache nicht krank. Die meisten Menschen könnten Schicksalsschläge bewältigen oder verdrängen. Aber bei denen, die dazu nicht in der Lage sind, genüge irgendein Anlass, und ein Geschehnis aus der Vergangenheit breche mit aller Gewalt über sie herein.“
Unheimliche Begebenheiten
Über die absurd lange Dauer von zehn Jahren sitzt die Patientin in der Praxis, die meiste Zeit stumm, ohne ein Wort zu sagen. Eben dieses Nicht-Benennen-Wollen des eigenen Schmerzes kennt die behandelnde Psychologin aus ihren eigenen Fluchten, deshalb lässt sie die junge Frau gewähren. Doch es gibt einen anderen, tieferliegenden Grund, weshalb sie ihrer letzten Patientin noch im Schweigen zuhört, weshalb sie um diese „N wie Niemand“ kämpft, als sei sie ihr eigen Fleisch und Blut. Fraglich bleibt, ob auch in einer realen Behandlung der Analysandin gestattet würde, über mehrere Jahre zu schweigen. Möglicherweise handelt die hier vorgestellte Therapeutin fahrlässig.
Edschmids Geschichte steht weniger auf realistischem, denn auf schwankend-spekulativem Wirklichkeitsgrund. Eine unheimliche Stimmung durchzieht diese literarische Seelenzergliederung – und erscheint dennoch als eine konzise Parabel über radikal konstruktivistische Ansätze der Lebensführung. „Die letzte Patientin“ ist das Portrait einer Frau, die stets kurz davor war, zu fallen – „immer auf Absätzen, die sie ein wenig größer erscheinen ließen, als sie eigentlich war.“ Edschmids Prosa ist kühl, präzise und schneidend wie ein frisch desinfiziertes Skalpell – ihr spätberufenes Werk, insbesondere diese kleine Geschichte: Zeugnis einer großen literarischen Könnerschaft.
Ulrike Edschmid: „Die letzte Patientin“, Suhrkamp, Berlin, 111 Seiten, 23 Euro