Fragen nach dem liebsten Essen, der favorisierten Musik, dem besten Getränk sind einfach, da ohne weitreichende Erklärungen zu beantworten: Schnitzel-Pommes, The Beatles und Single Malt Whisky rufen bei jedem Menschen ähnliche Bilder auf und wer nie „Die Hand Gottes“ von Maradona gesehen haben will, wird in fußballbegeisterten Ländern leicht schief beäugt. Aber wie ist es mit Büchern, wenn sich zwei gegenübersitzen und von Romanen reden? Gibt es ein kollektives Gedächtnis in der Literatur, das hinausgeht über jenen Satz Marcel Reich-Ranickis im Literarischen Quartett, mit dem Brechts „Der gute Mensch von Sezuan“ abgewandelt zitiert wurde: „Und so sehen wir betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen“?
Bücher werden oft ganz allein entdeckt. Zwischen dem WM-Tor, das alle beim Public Viewing im gleichen Moment erleben und den nachgespürten Folgen des Teufelspakts von Goethes „Faust“ liegen allein schon zeitliche Dimensionen. Mal ganz davon abgesehen, dass mehr Menschen an einem Tag das WM-Finale als binnen, sagen wir mal 80 Jahren den „Faust“ lesen. Man kann nicht allem nachjagen.
Wenn es also darum geht, die zehn Bücher des Lebens vorzustellen, funktioniert das weniger über den jeweiligen Inhalt, den im Netz jeder selbst nachschauen kann. Wenn ich überlege und begründen will, warum Else Lasker-Schülers „Mein Herz“, „Der Name der Rose“ von Umberto Eco und Gottfried von Straßburgs „Tristan“ etwas bedeuten für mich, dann geht es eher um Bilder, Gefühle, einen Geschmack im Mund, einen Stich ins Herz, den wir alle kennen.
Wie bei „Elementarteilchen“ von Michel Houellebecq, das mich zunächst anekelte mit seinen klinischen Sex-Beschreibungen, bis ich dann im ICE sitzend vor 15 Jahren verstand, dass hier deshalb Intimitäten so technisch-kalt beschrieben werden, weil das Buch nichts anderes ist als die Erinnerung einer neuen Spezies, die sich ein letztes Mal an uns linkisch Liebende erinnert. Als auf der letzten Seite stand, dieses Buch sei „dem Menschen“ gewidmet, der schon bald von genetisch manipulierten Wesen abgelöst sein wird, da war mir klar: Ich bin komplett allein. Ich fiel in in tiefes trostloses Loch.
Wer jemals in ein solches Loch gefallen ist, der kommt mit „Frühstück bei Tiffany“ und Truman Capote wieder raus, denn seine Haltung ist klar umrissen mit dem treffenden Bonmot: „Life is very dark and very bleak. That’s why we all need to drink champagne and stay at the Ritz.“ Allein der Anfang dieses brillant mit Audrey Hepburn verfilmten Märchens trifft ein menschliches Urgefühl: „Es zieht mich stets dorthin zurück, wo ich einmal gelebt habe, zu den Häusern, der Gegend.“
Mich zieht es immer wieder zu den gleichen Büchern, wie „Mein Herz“ von Else Lasker-Schüler, die „jedenfalls die größte Dichterin war, der ich je begegnet bin“ (Schalom Ben-Chorin). In dieser fiktiven Briefsammlung berichtete die gebürtige Wuppertalerin aus einem hyperaktiven Berlin des Jahres 1912 derart nah und liebesüberquellend, dass ich mit ihr in eine Vergangenheit reise, die selbst meine Großeltern nie erlebt haben. Ich reise zurück…
Die zehn Bücher des Lebens – sie müssen für Johann Wolfgang von Goethe schon allein deshalb ganz andere sein als für mich, weil ihm nicht vergönnt war, große Werke wie Thomas Manns „Zauberberg“ zu lesen. Oder: Was würde Thomas Mann über Umberto Ecos „Der Name der Rose“ denken, hätte er dieses Werk je lesen können?
Goethes „Wahlverwandtschaften“ verstand ich, je nachdem wann ich es mit mir trug, mal als Liebessatire oder als Hippie-Utopie. Ich verglich es im Düsseldorfer Studium erst mit Martin Walsers „Ein fliehendes Pferd“, erkannte später die tiefe Verwurzelung des Goethe-Romans in Gottfried von Straßburgs mittelalterlichem Versepos „Tristan“ (nicht zu verwechseln mit Wagners „Tristan und Isolde“, das sich lediglich zaghaft an den alten Text anlehnt). „Tristan“ erklärte mir die Melancholie und warum Liebe schon 1220 Ehebruch sein durfte, auch weshalb es Perfektion im Miteinander nicht gibt, weil „Liebe bedeutet, dem anderen die Möglichkeit zu geben etwas Gutes zu tun, dadurch, dass er ist, wie er ist.“ (Niklas Luhmann in „Liebe als Passion“).
Die „Wahlverwandtschaften“ waren Lockerungsübungen der Intimität, jeder mit jedem und doch ein Gefühl von Erhabenheit – Erhabenheit, die Umberto Eco dann wieder brach, indem er aus Tristans Zeit mit den Mitteln von Arthur Conan Doyles Sherlock Holmes berichtete. Seitdem spüre ich dem „berühmtesten Londoner“ nach, „der nie gelebt hat und nie sterben wird“ (laut des „Museum of London“), mache eben diese Detektivgeschichte zum ewigen Lebensbegleiter, ob mit „Dr. House“ (Holmes) oder Umberto Ecos Mönch Adson (Watson) von Melk. Ich fühle mich im ständigen Déjà-vu gefangen.
Aus den tausend Verweisen, wieder zurück ins reine Gefühl brachte mich dann „Alberta empfängt einen Liebhaber“ von Birgit Vanderbeke, die ich zuerst nur deshalb las, weil eine Ex-Freundin, der ich unsagbar hinterhertrauerte, begeistert von den kurzen Romanen der begabten Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin sprach. Ich fühlte mich dieser jungen Frau (der Ex) immer dann nah, wenn ich Vanderbekes Geschichten las, als hätte ich mich revers in ihr neues Leben eingeschlichen.
Aber dieses Einschleichen war nur ein Bild natürlich, das ich aus Javier Marias’ „Morgen in der Schlacht denk an mich“ übernommen hatte, wo sich ein Mann nach dem unerwarteten Tod seiner Liebhaberin in deren Familie einschleicht. Dieses Motiv des Einschleichens begleitet mich auf kribbelige Weise seit Jahren. Es ist ein Voyeurismus, der sich an Romanen abarbeitet und zeigt, dass Literatur auch geheime Sehnsüchte kompensieren kann.
Mit der Idee der Kompensation lande ich abschließend bei Rainald Goetz’ „Irre“, diesem Psychiatrie-Punk-Roman von 1983. Da war ich vier. Während hier Wahnsinn und Revolte von einem Autor beschrieben wurden, der ein Jahr älter (!) als meine Eltern ist, hörten die eben nicht The Clash, sondern („Don’t pay the ferryman until he gets you to the other side“) ausgerechnet Schnulzenbarde Chris de Burgh.
„Irre“ ist meine Literatur der Auflehnung und des Generationen-Unterschiedes, mein zu laut gespielter Bass im literarischen Soundtrack des Lebens, mein Gegenstück zu „Let it be“ von den Beatles, den Mauerspecht-Erinnerungen aller (ich habe gar keine, ich war damals zehn Jahre alt). – Am Ende ist „Irre“ auch der Roman, der alles, was mich an Literatur begeistert, vereint, die Quintessenz aus dem nackten Existentialismus von Houellebecqs „Elementarteilchen“, des Ewig-Fremden des „Tristan“-Hochmittelalters oder der sexuellen Sehnsüchte aus Goethes „Wahlverwandtschaften“. Momente meiner zehn lebensbegleitenden Bücher tauchen in nahezu jedem anderen fiktiven Buch ebenso auf. Wer liest taucht ein in die andere Welt, in der sich Tristan und Adson näher sind als die so genannte Realität und jede x-beliebige Storyline. Auf Schnitzel-Pommes, The Beatles und Single Malt Whisky kann ich verzichten: auf Sherlock Holmes dagegen nicht.
(Der Text erschien zuerst im Herbstkatalog von Die Mayersche und gibt meine damaligen Top-Ten an – die täglich wechseln kann)