Kaum eine Debütantin der vergangenen Monate bekam so euphorische Kritiken wie Lara Schützsack, die 2013 mit ihrem Film „Draußen ist Sommer“ in die Kinos kam. In ihrem kurzen Roman „Und auch so bitterkalt“ erzählt die Hamburgerin Schützsack exakt zehn Jahre nach Kerstin Grethers „Zuckerbabys“ von Magersucht, Traumwelten und dem Wunsch nach Leichtigkeit.
Lucinda und ihre etwas jüngere Schwester Malina sind zusammengeschweißt wie Hänsel und Gretel in dem Märchen der Brüder Grimm. Zutraulich schauen sie auf die große Welt und ahnen erst einmal nicht, dass sie lägst ins Dunkle, in ein Labyrinth geführt wurden, aus dem es kein Entrinnen gibt: „Wir haben keine Angst. Denn das gefährlichste ist die Angst selbst. ‚Die Erwachsenen‘, sagt Lucinda, ‚haben immer Angst. Alles beunruhigt sie. Am meisten die Sterne. Weil sie nicht verstehen können, wie etwas so hell und so schön und gleichzeitig Lichtjahre entfernt sein kann.‘“ Oft liegen die beiden Schwestern auf dem Rücken und schauen in den Himmel, betrachten den Mond oder zählen Sternschnuppen.
Wenn sie so daliegen träumen sich die beiden in Phantasiewelten. „Tenebrien ist das Land, in das alle gehen, die nicht für unsere Welt gemacht sind. Die Dünnhäutigen, die Gläsernen, diejenigen, die zu viel wünschen, diejenigen, die zu viel gewagt und zu viel verloren haben. All die Narben, die wir auf dieser Welt bekommen haben, heilt das Kerolische Meer. Ein Wasser, das unvorstellbar tief und salzig ist und auf dem der Körper schwerelos treibt. In Tenebrien schlafen wir alle nackt und in Eisbärfelle eingewickelt, dicht nebeneinander.“ Tatsächlich schlafen Lucinda und Malina in einem dreistöckigen blauen Haus, bei ihren Eltern Isa und Frieder. Sie gehen zur Schule und sind genauso an die Schwerkraft gebunden wie alle anderen Menschen auch. Obwohl: „Ich glaube, irgendwo auf dieser Welt denkt immer jemand an die Augen meiner Schwester. Lucinda ist so ein Mädchen, nach dem sich die Menschen auf der Straße umdrehen.“
Lucinda ist die Leuchtende. Sie ist schön, strahlend und ultraleicht wie gleißendes Licht (daher kommt auch ihr Name, vom lateinischen „lux“). Ihre Schwester Malina wurde dagegen nach einer Sonnengöttin getauft. In der isländischen Sagenwelt ist Malina die Schwester des Mondgottes Anningan. Kein Wunder, dass sich irgendwann auch Lucinda verwandelt, als sei sie genau dieser Mond: „Meine Schwester hat dunkle Tage. Das sind die Tage, an denen sie kein Wort spricht. Schweigend laufen wir morgens zur Schule. Schweigend fahren wir am Mittag von der Schule zurück. Meine Schwester hat den ganzen Tag den abwesenden Blick.“
An einem dieser Tage wird Lucinda aufhören, zu essen. Malina versteht nicht, was mit ihrer großen, immer dünner werdenden Schwester geschieht. Sie versucht, die Veränderungen in der Familie wahrzunehmen. Sie will Schlüsse daraus ziehen. Doch alles bleibt rätselhaft. Ihre Mutter liest jetzt Ratgeberbücher mit Titeln wie „Hunger nach Anerkennung“ und seufzt währenddessen leise. Malina begleitet ihre Eltern zu einer Familientherapie. Sie bekommt Bruchstücke von Lucindas erster Liebe mit, einem Typen, der sich „Jarvis“ nennt, Platten der Brit-Popband „Pulp“ hört und ebenfalls in einer Traumwelt, in seinem ganz eigenen Tenebrien lebt. Er sagt Sachen wie: „You are beautiful. Du bist schön.“
“Und auch so bitterkalt“ kommt zur rechten Zeit. Die Berliner Philosophin Ariadne von Schirach schreibt in ihrem Band „Du sollst nicht funktionieren“, dass jede dünne Frau eine kleine Skulptur aus Überlegenheit sei: „Vorwurf und Vorbild in einem“. Wir machen uns menschliche Maschinen zum Vorbild – seit Jahren bereits. Das Dünn-Sein als Hunger nach Leben (der aber zum Tod führt) hat Kerstin Grether 2004 in ihrem Magersuchtspoproman „Zuckerbabys“ beschrieben. Heroin-Chic bleibt cool. Hipster-Röhrenjeans passen nur über dünne Beine. Heidi Klum zementiert in „GNTM“ absurde „Schönheitsideale“. Selbst Beyoncé lässt ihre Urlaubsbilder per Photoshop so retuschieren, dass eine Thigh Gap, eine Oberschenkellücke bei ihr zu erkennen ist. Selbstverständlich ist Jarvis Cocker ein dünner Mann, das magere Gegenteil der gestanden-properen Proll-Boys Noel und Liam Gallagher von Oasis.
Lara Schützsack schafft es in ihrem sprachlich zarten Debüt, diese sehnsüchtige, auf Selbstoptimierung getrimmte, auf das Dünn-Sein fixierte Welt von Lucinda einzufangen. Sie schreibt über Selbstmordtragödien, Schneeengel, Sternschnuppen, Küsse und Urlaubsreisen, die nicht mehr stattfinden: „Isa findet die Situation zu heikel. Sie will nicht mit Lucinda im Ausland sitzen und dann den Notarzt rufen müssen, weil die Hitze zu viel für Lucindas Körper ist.’“ Sie schreibt darüber, ohne ihre Figuren zu verraten oder mit ihren Sehnsüchten ins Lächerliche zu ziehen.
Für Lucinda und Malina bleibt irgendwann nur noch Tenebrien, weil die echte Welt trist geworden ist. „Natürlich hat Tenebrien auch ein Nationaltier, die blaue Katze. Die Katze hat leuchtend gelbe Augen und ozeanblaues Fell, sie zu treffen bringt Glück, sie zu berühren Trost.“ Blau ist die Sehnsuchtsfarbe der Romantiker. Der Dichter Novalis hat die „blaue Blume“ besungen. Das Blaue steht für eine erträumte Gegenwelt – zu der sich Lucinda am Ende ihrer langen Reise begeben wird, ohne ihre am Fenster stehende kleine Schwester mitzunehmen.
Sie ist dann ganz leicht und kann kaum ihr Köfferchen über den Gartenweg zur Straße tragen. In ihrem Rücken, aus dem die Schulterknochen wie Engelsflügel stechen steht ihr blaues Elternhaus. Malina bleibt allein zurück. „Wenn die Erwachsenen immer und immer wieder fragen: ‚Warum?‘, denke ich an den Stern, der auf dem Höhepunkt seines Lichts vom Himmel fällt. Damit die anderen nicht geblendet werden. So ist das eben.“
Lara Schützsack: „Und auch so bitterkalt“, Fischer, 176 Seiten, 14,99 Euro