Vermutlich ging es vielen so: Als deutsche Regisseure ihren Bühnenakteuren befahlen, sie sollten sich auskotzen, pissen, ficken, kacken, brüllen, alles nackt, da stiegen sie mit einem Gähnen aus. Wie weit hatte sich das hehre Theater von seinen besten Zeiten entfernt:
„Das zierliche Benehmen der Personen, welche vorher im Schauspiele gesprochen hatten, und daß sie so einer hinter einander gesprochen hatten, dünkte mich so reitzend, so vornehm, so ehrwürdig!“, schreibt August Wilhelm Iffland, größter Schauspieler der Goethezeit, in seinen Memoiren. Im Thomas-Bernhard-Jahr 2014 ist ein guter Moment, um nachzuschauen, ob das Schauspiel in Deutschland lebt und die Hymnen stimmen, die gesungen werden, sobald eine Mimin vom Theater zum Tatort am Sonntagabend wechselt, oder ob es lediglich im Zombie-Zustand seinen Zuschauer hinterher hechtet.
Aus „Theater heute“ wurde längst „Theater gestern“, toxisches Terrain, wo man nicht tot überm Bühnengraben hängen will. Kino oder Kammerspiele? Lange stand die Wahl fest, bis jetzt: trotz „House of Cards“, Fan-Fiction, die wir uns selber in die Foren tippen oder den zuhauf besprochenen Multiplayer-Games – inzwischen erzählt ja alles Geschichten. Aber im Theater werden sie besonders geil erzählt. Was zu beweisen ist. Nach der fünfzigsten Comic-Verfilmung, und den Kreativität tötenden Scriptautorenstreiks in Hollywood nervt Multiplex komplett.
Das fängt beim lauwarm-weichen Popcorn an, das aus riesigen, durchsichtigen Plastiksäcken über den Umweg Stahltrog in aufgeblähte Zuschauermägen geschaufelt wird. Das hört bei den KingKongCarrieTotalRecall-Dauer-Remakes nicht einmal auf.
Bevor die neue Spielzeit losgeht lohnt es sich vorbeizuschauen bei Sandra Hüller im René-Pollesch-Stück „Gasoline Bill“ oder bei Ferdinand Schmalz und seiner gehypten Occupy-Utopie „am beispiel der butter“. Wie hell brennen die Mülltonnen in Jette Steckels „Die Ratten“ am Hamburger Thalia Theater? Was machen Daft Punk die „Kabale und Liebe“ und „Kippenberger“ im Kölner Schauspielhaus? – So fährt man los, „Theater heute“ und „Theater der Zeit“ im Gepäck, so können auch nur Theatermagazine heissen, denkt man: „Disco heute“ oder „Street Art der Zeit“, das klingt unfassbar behämmert, nur kunstferne Branchenmagazine heißen ähnlich: Logistik heute, Psych.Pflege heute oder Christsein heute.
Ebenfalls auf der Reise dabei sind Background-Archive wie August Wilhelm Ifflands (Bild) „Meine theatralische Laufbahn“ von 1798, oder der 850-seitige Briefwechsel Thomas Bernhard/Siegfried Unseld, in dem Österreichs einstiger Megastar-Theaterautor seinen Suhrkamp-Verleger anpöbelt:
„Wohin man auch schaut, man hat es nur mit Unfähigkeit zu tun und die Schlamperei ist das Fundament, auf welchem diese Unfähigkeit auch noch hoch bezahlt wird.“ Das Theater-Ding muss ja zu packen sein, einmal kopfüber rein, also raus, in die Bühnenwelt, die im SPIEGEL ganz hinten, selbst beim ZDF nur spät abends abgebildet wird.
Über allem steht die Frage, was dran ist am Bühnen-Hype um volle Häuser, große Stücke, neue Ideen, ob umgesetzt wird, was der Hamburger Intendant Tom Stromberg bereit 2000 forderte: „Das Schauspielhaus muss die beste Kneipe der Stadt sein.“
Wer Billboard kennenlernen will, beginnt mit Beatles „Abbey Road“, der Sixtinischen Kapelle des Pop und landet später erst bei The Monks. Wer 2014 ins Theater einsteigt, geht sicher bei René Pollesch, der in den Kammerspielen inszeniert, direkt gegenüber des euphemistisch „nicht ganz billig“ im Netz apostrophierten Ralph-Lauren-Shops in der edlen Maximilianstraße. Dort wird „Gasoline Bill“ gegeben, mit der alles überstrahlenden, mit jedem guten Preis bedachten Sandra Hüller in einer der Hauptrollen. Die Besprechungen waren durchweg positiv.
Drinnen Kapitalismuskritik, draußen Käseteller und Aperol. Die Theatergastronomie besteht aus Schäumchen und Sößchen und Fingerfood. Eigentlich sollte hier das Perlende in 80er-Jahre-Flöten gereicht werden, wie in „Kir Royal“. Luxeriös angeschickert im Gemüt sitzt man später da im erstaunlich niedrigen Saal, blättert um 19:20 Uhr im Kammerspiel-Programmheft zu „Gasoline Bill“, während Beastie Boys etwas zu laut und für den Theaterraum unangepasst andeuten, dass gleich weder Kabale, noch Liebe zu erwarten sind.
Klar ist: Diese Programmhefte erklären nie irgendwas. Feuilletonphilosoph Slavoj Žižek (Bild) wird zitiert. Es gibt ein kurzes Interview mit Autor und Regisseur Pollesch, in dem es um „lässige coole Kapitalistenschweine“ wie Mark Zuckerberg, Bill Gates und Steve Jobs geht. – Kostet zwei Euro, ist unterhaltsamer als diese McDonald’s-Filmzeitschrift und wenn man dann weiter blättert steht auf einer kompletten Seite deutlich in Majuskeln „INTERGALACTIC“, anschließend zwölf Mal, Zeile unter Zeile „another dimension“ („another dimension, another dimension, another dimension“ et cetera). Daneben eine Fotografie aus dem Stück,. Das zeigt Sandra Hüller mit Cowboyhut und blonden Locken.
Sie wirkt hier, auf Papier, bereits wie eine sprungbereite Gegenfigur zu jener manisch-depressiven Michaela Klinger aus der katholischen Provinz, mit der sie bekannt wurde. Neun Jahre ist das her, da war sie Geheimtipp-Mimin im Kinofilm „Requiem“ von Hans-Christian Schmid und bekam anschließend neben dem Bayrischen Filmpreis auch den Preis der deutschen Filmkritik, den Silbernen Bären auf der Berlinale, den Deutschen Filmpreis in der Kategorie Beste darstellerische Leistung − weibliche Hauptrolle.
„Die Preise waren für mich immer eine große Überraschung, ernsthaft“, wird sie später im Gespräch sagen. „Das habe ich ja alles nicht kommen sehen. Da habe ich immer einfach meine Arbeit gemacht. Ich wusste wirklich nicht, dass es so etwas gibt. Ich komme aus der totalen Provinz.“ Die totale Provinz: Suhl in Thüringen, wo mit Corinna Harfouch noch eine andere Schauspielerin her kommt, um später schlimme Haarschnitte in deutschen Filmen tragen zu müssen.
Wer „Requiem“ je gesehen hat, vergisst Sandra Hüllers Gemeindehaus-Topffrisur nicht. Von der Ost-Provinz in Echt zur West-Provinz im Film nun also „another dimension“ und gefühlte tausend Preise später bei René Pollesch auf der Bühne, mit krasser Präsenz im Nietenjeanshemd, mit Cowboyhut und diesen irren Denver Clan-Locken. Dazu laute Texte der Art: „Ich hab mit Greenpeace zwei Delphine gerettet und werde immer trauriger. Wie kann mich denn die Erlösung so traurig machen und mich nur zerstören? Woher kommt denn das?“
Zwei Schauspielerinnen (Katja Bürkle, Sandra Hüller) und zwei Schauspieler (Benny Claessens, Kristof Van Boven) sind direkt am Anfang nah an den Bühnenrand getreten. Sie steigen in den Zuschauerraum. Sie zünden sich Kippen an, um dann dazustehen, rauchend, diskutierend, über „diese toxischen Subjekte. Man weiß ganz genau, dass sie es nicht können, und dann lässt man sie trotzdem ran. Sie sind immerhin besoffen. Warum denk ich dann trotzdem, ich müsste ihnen in diesem Moment eine Chance geben? Warum denken sie, sie hätten eine verdient. Ja, vielleicht morgen, wenn sie wieder nüchtern sind und auch nicht sonderlich begabter. Aber warum, ausgerechnet, lass ich sie an meine Wimpern und an meine Haare in diesem desolaten Zustand, in dem sie sind? Erwarte ich mir ein Wunder? Sie! Glauben Sie nicht, dass ich nicht zu schätzen wüsste, was Sie für mich getan haben. Aber ich kann damit nicht umgehn, das ist mir einfach zu toxisch. Es gibt zweierlei Arten toxischer Subjekte. Und diese hier, die völlig unfähig waren, mich anzuziehen und die Vorstellung in Ganz zu bringen, es aber trotzdem taten, war die eine Sorte.“ Monstertextfläche.
Gasoline Bill erzählt in einer Dauerdiskussion ohne Vorhang auf, Vorhang zu, in einer einzig durchlaufenden Szene, wie wir beenden könnten, alles verstehen zu wollen. Gasoline Bill erzählt, wie wir uns jedes Gegenüber unnötig klein machen, indem wir immer etwas von uns darin sehen und was das überhaupt mit dem Jetzt zu tun hat. Auf der Bühne, mit den schillernden Disco-Lametta-Fäden und dem teilweise tobenden Cast ist dieses Parolen-Gewitter mindestens bewusstseinserweiternd. „Gasoline Bill“ ist ein basslastig-lautes Stück gegen das ständige „OK“ im wohltemperiert langweiligen Ton, das Leute auf Parties statt des früher üblichen Nickens einwerfen. „Ohh Key“ sprechen sie es dann aus, als sei jedes Aussage ein Barcode, der über den Scanner im Discountmarkt gezogen wird.
Es gibt in „Gasoline Bill“ keine konstanten Figuren. Es gibt keine Hollywood-Handlung. Es gibt ganz viel Diskussion und die Vorgabe von René Pollesch, „dass die Schauspieler sich den Text nicht aneignen müssen. Sie müssen nicht irgendwann so tun, als wären es ihre Texte, sondern ich muss Texte schreiben, die für sie zu gebrauchen sind“.
Das erklärt Sandra Hüller vor der Kantine, hinter der Bühne, im Innenhof, nach dem Stück so: „Ja, dass man dann beispielsweise sagt: ‚Ich kann das nicht.‘ Oder: ‚Ich hab jetzt auch keine Lust heute‘. Oder: ‚Macht das doch alleine.‘ Oder: ‚Ich nehme jetzt den Text in die Hand.‘ Oder: ‚Wie war das nochmal, Joachim, – der Souffleur – kannst du mir mal kurz helfen?‘ Deshalb ist es auch entlastend, das zu spielen. Weil man an keiner Stelle so tut.“ Es ist also Theater ohne Vorhang und ohne Zwang, weil Diskussionen nicht auswendig gelernt, sondern tatsächlich diskutiert werden sollen. Klingt irre-wirr, bis man darüber nachdenkt, dass jede politische Talkshow so funktioniert: Der Urtext eines jeden Politikers ist immer schon da und wenn die Kamera läuft, werden die Sikussionen auch nur simuliert. Es wird sowohl diskutiert als auch inszeniert als auch längst Feststehendes als monologisierende Textfläche in die Kamera, zu den Zuschauern gepostet, gepost.
„Gasoline Bill“ ist mehr als schlau. Es kommt mit einer befreienden Tanzeinlage zu Jamiroquai, die gerade en vogue zu sein scheinen, wenn modernes Theater gemacht wird, ebenso Daft Punk, die später noch hier und da auftauchen. „Gasoline Bill“ nimmt die Jetzt-Zeit volley, ist unfassbar rasant, ohne eben dieses Pissen, Kacken, Brüllen, Kotzen, das doch sowieso nicht in die Alltagsrealität eines Menschen mit Sinn, Studium, Hamster, Beruf gehört.
Theater, das nicht so tut vs. Marvel-Verfilmungen mit ihrer Computer Generated Imagery. Das wird in den kommenden Wochen häufiger vorkommen, in Leipzig, Köln, Hamburg, dass auf einmal in 3D, in der so genannten Realität, im Theater, das man ja riechen, auch schmecken, wie in Echt wahrnehmen kann, dass dort auf spektakuläre und spekulative Weise die Wirklichkeit verrückt, erweitert, umgestossen wird, das einem der Mund offen stehen bleib, während eben auch „Gasoline Bill“ anderthalb Stunden lang alle unterhält bis auf jene drei, die den Saal verlassen.
„Ach, vielleicht hat denen auch einfach der Rauch nicht gefallen“, wird Sandra Hüller sagen. „Man weiß das ja nicht. Man weiß ja nie, warum Leute gehen. Vielleicht müssen sie tierisch aufs Klo, Oder sie haben einen Anruf vom Babysitter gekriegt oder so. Da gibt es tausend Gründe, Man denkt immer erst, es hat mit einem selber zu tun oder mit dem, was man da macht. Aber, letztlich weiß man’s nicht.“
Manchmal ist es ganz leicht, wenn schlau und schön zusammenkommen und Theater keine Antwort, sondern eine Frage aufwirft, die man seit Monaten seltsam spürt, aber hier stellvertretend ausgesprochen findet: „Wie kann mich denn die Erlösung so traurig machen und mich nur zerstören? Woher kommt denn das?“
(Dies ist Teil 1 der großen Theaterrundreise, gekürzt erschienen im Rolling Stone. Teil 2 gibt es hier / Bildnachweis: „Iffland und Labes in Der Geizige“ von Friedrich Weise / Slavoj Žižek: / Beitragsbild: Sandra Hüller – Wikipedia /
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