Ohne Egotronic-Sänger Torsun würden Wörter wie „Sitzraver“ oder „Fratzengulasch“ im Orkus des Vergessens abtauchen. „Raven wegen Deutschland“ erinnert an die besten Parties vergangener Jahre.
Der Exzess steht aktuell im guten Licht. Der Feuilletonredakteur Peter Richter lobt in seinem Buch „Über das Trinken“ den Genuss von Alkohol. Kollege Gregor Hens schreibt in „Nikotin“ eine Hommage an die Zigarette. Bei Charlotte Roche („Schoßgebete“) teilen sich Mann und Frau regelmäßig eine Hure. Und Partypeitsche Torsun Burkhardt singt auf dem „Macht keinen Lärm“-Album von Egotronic: „Hab getanzt, war gut drauf, exzessiv, zelebrierte den Rausch. – Die Grübelei hatte ich gegen eine Pille getauscht.“ – Ein bisschen nachgedacht hat Torsun dann doch und zusammen mit Blogger und „Entschwörungstheoretiker“ Daniel Kulla das Erinnerungsbuch „Raven wegen Deutschland“ geschrieben – eine Anlehnung an den Egotronic-Hit „Raven gegen Deutschland“.
Es gibt Journalisten, die Torsuns simple Sprache mit „Bussy Bär-Heften“ verglichen haben, während Technoblogger Airen lobt: „Das Tolle an Torsun als Künstler ist, dass da mal wieder einer für uns das extreme Leben lebt, und man sich das anhören kann auf dem Weg zur Arbeit, oder sich das durchlesen kann auf seiner Hollywoodschaukel, und sich dann gleich ein Stück lebendiger und jünger fühlt.“ Dem kann man hinzufügen: Das Buch selbst hat Klasse. Was nach „Bussy Bär“ klingt ist Kunst.
Diese beginnt im Desaster. Torsun ist arbeitslos und wird von seiner Freundin verlassen. „Jobs, das war nicht so mein Ding“, bekennt er und steigt ein mit der verpeilten Entstehungsgeschichte von Egotronic. Der Legende nach hat Torsun das Electropunk-Projekt in Berlin gegründet, um keinen 1-Euro-Job annehmen zu müssen. Am tiefsten Punkt, Freundin weg, Geld weg, Perspektiven weg, Drogen kostspielig, startet also dieses inzwischen zehn Jahre ravende Szenephänomen. Das heisst, er rappelt sich langsam auf, lernt ein neues Mädchen kennen – und aus dem Hartz IV-Empfänger wird binnen weniger Monate ein Berliner Szene-Star. Diese Tour zelebriert Torsun natürlich auf seine Art: In verfeierten Berlin-Clubnächten, mit Amphetaminen, XTC, Koks – immer druff, immer Partiiiieee – dem Motto folgend: „Tanzen ist die wärmste Jacke.“
Es ist geradezu absurd, aus welchen Szenen der inzwischen 37-Jährige heil herausgekommen ist. Ständig nimmt er „Erfrischungen in Pulverform“ auf, performed, voll mit Drogen auf Raves, während sein Gesicht im „Fratzengulasch“ ausrastet. Sieht er ein Mädchen, kommt ihm die Situation vor wie „ein Augenaufschlag in die Magengrube.“ Er philosophiert über die Kapitalismus stützende „neue Selbstdisziplinierung“ vieler Arbeitnehmer und wo er politisch steht, erläutert Kumpel Kulla mit dem prägnanten Satz: „Politisch war Torsun vor allem israelsolidarisch und lohnarbeitsfeindlich.“
Vom Keta-Rausch in der Berliner „Bar 25“ über Sekundenhallus bis zum Sozialschmarotzer-Diss schreibt Torsun die komplette Wirklichkeit seiner vergangenen Jahre mit. Es gibt verpeilte Sommer-Trips in Deutschlands Osten. Es gibt antideutsche Demonstrationen, bei denen Skinhead-Reisebusse „entglast“ werden. Torsun erinnert sich an durchgefeierte Clubnächte, an Drogenparties, Antifa-Demos, Sommer-Chill Outs und ganz viel Klickerklacker-Techno beim Sonnenaufgang.
Mit diesem Buch kann jeder des Lesen Mächtige mitsaufen, mitfeiern, mit Torsun und seinem Co-Auf dem neuen Album sind Torsun: „Mein Planet ist eine Disco, die wohl beste, die es gibt. Wünsch‘ Dir ein Lied!“ Auf den Bildern sieht man den Egoronic-Frontmann oft mit Kippen und Getränken in der Hand. Nichts hat dieser Mann ausgelassen. Ist sein Bericht deshalb weit entfernt von der feuilletonistischen Alkohol-Kippen-Hureninszenierung anderer Autoren? Wie konnte sich Torsun den ganzen Exzess merken? – Fragen über Fragen. Applaus für dieses großartige Buch.
(Torsun & Kulla: „Raven wegen Deutschland“, Ventil, 316 Seiten, 12,90 Euro)