Mit Andreas Veiels Spielfilm „Wer wenn nicht wir“ und der Ensslin-Vesper-Briefausgabe „Notstandsgesetze von Deiner Hand“ beginnt die letzte Etappe einer Liebe in Zeiten des Terrorismus. Zugleich beendet sie endgültig die Fortdauer des Dritten Reichs (für meine Generation).
Bernd Eichingers „Der Baader Meinhof Komplex“, Nina Grosses „Das Wochenende“, dann die Nachricht auf Spiegel Online vom 19. Oktober 2012: „Wie kam RAF-Gründerin Gudrun Ensslin am 18. Oktober 1977 im Gefängnis zu Tode? Bruder Gottfried Ensslin will endlich wissen, was in jener Nacht in Stuttgart-Stammheim geschah. Er prangert Ungereimtheiten bei der Untersuchung an und hat die Wiederaufnahme des Verfahrens beantragt“. Die nationalsozialistischen Zeitzeugen, Täter, Opfer sind nicht mehr überführbar in die Erzählungen unserer Zeit. Noch in den 90er Jahren war es üblich, das Motiv etlicher Fernsehkrimis zwischen 1933 und 1945 anzusiedeln. Morde geschahen, weil sich einstige KZ-Aufseher erkannt fühlten. Opfererben zogen auf Rachefeldzug gegen die einstigen Schlächter, der Kalte Krieg war Fortdauer des 2. WKs. Es gab eine unabgerissene Kontinuität vom Jetzt in den einstigen Schrecken hinein. Adolf Hitler als noch lebender Greis war denkbar (da Jahrgang 1889). In den Zeitungen standen Todesanzeigen der vor 1900 Geborenen.
Bis in den Anfang des neuen Jahrtausends reichend wurden noch aktive Amt- und Würdenträger demaskiert: Walter Jens, Peter Wapnewski und Walter Höllerer wurden als NSDAP-Mitglieder geführt und überführt (es wirkte ein bisschen so, als seien sie es in den 40ern gewesen, danach folgte ihre eigentliche Karriere, zum Schluss wurden sie von den Enthüllern wieder in die NSDAP gezwungen, ihr Leben eingerahmt zwischen Nazis und Stiernacken). Günter Grass war bei der SS, auch hier: Vor seiner literarischen Karriere, und dann nochmal nach dem Literaturnobelpreis. Geschichte wurde verdoppelt. Zahlreiche Menschen seiner Generation mussten sich fragen lassen: „Wie hieltest du es damals mit dem Regime (gemeint war: jetzt!)?“
Das ist 2012 vorbei. Die letzten Institutionen, von der Deutschen Bank über die Deutsche Bahn bis zum deutschen Auswärtigen Amt stellen sich ihrer Vergangenheit, weil es nun eh egal ist. Statt Bomben, Nationalsozialismus, Krieg, NSDAP gibt es ein neues Skandalon, an dem sich die kommenden Jahrzehnte abgearbeitet wird. Die Erzählungen wagen hierfür einen großen Zeitschritt, von den 40ern hinüber in die 60er, 70er, über den „Summer of Love“ bis zum heißen Herbst. Sie erzählen vom Republikflüchtling, vom RAF-Helfer, vom Staatsmörder, der unschuldige Demonstranten erschießt, vom Stasispitzel und Linksmaulwurf. Wer hat den Terroristen einst geholfen – und es bislang verschwiegen? Man beginnt, gesammelte Daten aufzubereiten.
Die Zeit der 60er und 70er Jahre wird nach den ersten großen Werken wie Stefan Austs „Der Baader Meinhof Komplex“ (2008 wieder aufgelegt mit dem Hinweis: „Das Standardwerk. Vollständig aktualisiert – Erstmals mit Fotos – Alle Fakten – Alle Details“) fortan um Anekdotisches angereichert, mit der RAF mal stärker, mal schwächer im Hintergrund: Barbara Kalender und Jörg Schröder („Immer radikal, niemals konsequent“) erzählen vom MÄRZ-Verlag. Florian Havemann gelingt mit seiner skandalisierten Biographie ein Coup (bei Suhrkamp). 2009 folgen im gleichen Verlag die erstmals edierten „Notstandsgesetze von Deiner Hand“ von Gudrun Ensslin und Bernward Vesper (versehen mit einem Nachwort Felix Ensslins). Nicht alle Briefe sind enthalten. Die Rechtelage ist unklar, auf eine erweiterte Ausgabe („vollständig aktualisiert – erstmals mit Fotos – alle Fakten – alle Details“) wird man warten müssen. Doch was erfährt man bereits jetzt aus dem Buch, und dem daran angelehnten Spielfilm „Wer wenn nicht wir“ aus dem Jahr 2011? Welche alternativen Versionen werden als Gegenrede zu den bislang virulenten Modellen installiert?
Eine Neulesung: Gezeigt wird, wie zwei Mensch versuchen, angesichts von Bedrohung, Unterdrückung, Hass und Wut soetwas wie Liebe zuzulassen – nicht nur Liebe zueinander. Es schreiben in den Jahren 1968/1969 zwei Gefangene, die sich als Gefangene eines Systems sehen, wo das im Kapitalismus Unbewusste ausgelagert wird in Heil-, Psychiatrie- und Gefängnisanstalten. Der Schizodiskurs soll die Ermächtigung der Unterdrückten befördern. Die noch unökologische Linke erkennt in den Ausgestossenen eine Art Krieger ihrer Mission. Die Mission ist: Bildung einer neuen, antikapitalistischen Gesellschaft. Es kommt die Zeit, in der eine Theorie, die nicht in die Praxis überführt werden kann, als nutzlos gilt. – Gudrun Ensslin wird 1968 nach den politisch motivierten Kaufhausbrandstiftungen in Frankfurt a.M. festgenommen und zu drei Jahren Haft verurteilt (da wollten zwei anklagen und ihnen wird anschließend der Prozess gemacht, in Umkehr bzw. Geraderückung der „Verhältnisse“). Der 1967 geborene Felix Ensslin bleibt beim Vater Bernward Vesper, wird aber hin- und hergeschickt, zu Bekannten, Verwandten, Freunden, ein Vormund wird installiert. „Da ist die Hand meiner Mutter, an deren Berührungen ich nie eine Erinnerung hatte, es sei denn, man wolle Träume Erinnerungen nennen.“
Film und Buch lassen sich mit unserer Zeit kurzschließen, denn sie diskutieren die Anfänge unserer Gegenwart. Dazu gehören: die Rolle der Frau im Familienleben, was überhaupt Familie heissen soll, was biologische oder soziale Mutterschaft, welche Erwartungen eines Kindes an die eigenen Eltern statthaft sind. Neuordnung durch Chaos. Spiegelungen. Die Trümmerfrauenkindern wachsen ohne den Vater, die Kinder der RAF ohne die Mutter auf. Felix Ensslin stellt im Nachwort fest: „Ich wurde einem Paar geboren, das zwar der Inszenierung einer Verlobung nicht widerstehen mochte, aber, getrieben durch die aufkommenden Winde des Zeitgeistes, am Hafen der bürgerlichen Ehe vorbeisegelte.“ – Die aufkommenden Winde des Zeitgeistes, drei Zustände in einem, was Günter Grass „Vergegenkunft“ heissen würde: der Augenblick, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eins sind. In Film und Buch werden debattiert: Die Black Panther-Bewegung in den USA als Komplizen des antikapitalistischen Aufstandes im Westen Europas, die Bildung eines linken Medienbetriebes mit März, Edition Voltaire, dem Heinrich-Heine-Verlag, der Zeitschriften konkret und Partisan – entstanden aus dem Geist der Flugblätter, dazu die „Umfunktionierung der Frankfurter Buchmesse“ für Proteste, Parolen, Demonstrationen.
Dergleichen habe ich zuletzt auf der Buchmesse in Kairo 2006 erlebt, als Feministinnen und männliche Unterstützer gegen Unterdrückung auf dem damaligen Messegelände protestierten – zeitgleich fand der Africa’s Cup im gegenüberliegenden Fußballstadion statt: Der Aufstand wurde niedergeknüppelt, Christian Kracht lotste mir den Weg ins Freie hinaus. Kontrolle, Gewalt, Zensur. Schlagworte der 1968er Jahre hierzulande.
Ein weiterer Diskurs behandelt die Erziehung (zehn Jahre vor „The Wall“ gibt es diese Sicherheit: „We don’t need no education“). Es findet statt: das Erkennen von eigenständiger Kindeswürde, die Teilnahme und Teilhabe am Leben als gleichwertiges Wesen (keine Kinderläden, Wände werden noch daheim mit Fingerfarbe bemalt). Da beschreibt Bernward Vesper, den kleinen FelixFelix, der inzwischen krabbeln kann: „Dann muß er raus und unbedingt sehn, ob die Welt noch steht, durch meine beiden Zimmer, den Balkon, Plattenspieler (er hat viele Platten zerkratzt, Bücherseiten rausgerissen, naja – und?“). Dem gegenüber gestellt gibt es große Entwürfe: Es wird gefragt, welchen Sinn Gefängnisse haben. Wie ist mit Ausgestossenen umzugehen? Analog zur Selbstermächtigung des Kindes finde eine Selbstermächtigung der Aussenseiter (Ensslin als Häftling, Vesper als randständiger Bohème) statt, nur werden keine Platten zerkratzt, kein Buchseiten rausgerissen, sondern Kaufhäuser angesteckt. („Naja – und?“) – Die Liebe findet sich währenddessen als neue Ich-Du-Beziehung. Im Film wird besonders eindringlich gezeigt, wie das anfänglich von Bernward Vesper ausgehende Dreiecksspiel „Mann-Frau-Frau“ als spätere „Frau-Mann-Mann“-Variante ins Katastrophische umschlägt.
Ensslin, die Vesper vor den Brandstiftungen mitteilt (im Film), sie und Andreas Baader führen weg: „Wenn wir zurückkommen, wohne ich hier nicht mehr.“ Vesper: „Und wohin geht’s?“ – „Nach Frankfurt.“ – „Für wie lange?“ – „Open End. wir werden da was machen.“ – „Ach, und was?“ – „Das wirst Du schon noch sehen.“ Was soll mit dem Sohn geschehen? Zur Not muss er „weggeben“ werden. Unzählige Filmszenen zeigen, wie Andreas Baader seiner Kampfgefährtin Gudrun Ensslin das Mütterliche, Familiäre aus dem Leib, aus dem Herzen prügelt – mit Worten, Taten, Fäusten. Die RAF, und hier beginnt die Neuinterpretation, die Neuschreibung, entsteht aus der Überkreuzung von Liebes-, Sexual-, Familien- und Ermächtigungsdiskursen jener Zeit. Der Besuch des Schah, der Tod Benno Ohnesorgs, die Demonstrationen, die BILD-Hetze usw. kommen weiterhin vor. Doch die Bedingung der Möglichkeit des späteren Terrors wird differenzierter dargestellt. Morden, nicht nur aus Hass oder Notwehr, sondern auch: aus Liebe, Verunsicherung, Angst. – In Film und Buch gibt es keinen einzigen heroischen Moment, keine Ästhetisierung des Terrors, keine BMW-Limousinen, die mit quietschenden Reifen entkommen, keine Heckler & Koch MP5. Die großen Reden finden am Küchentisch statt, werden aber permanent durchkreuzt, kurzgeschlossen mit privaten Problemen. Das politische Argument gilt nicht, wenn es vom Nebenbuhler geäußert wird, und mag das Private noch so sehr öffentlich sein: Wenn Gudrun Ensslin in der Haft Wollpullover für ihren kleinen Felix anfertigt, ist die Handlung unpolitisch. Stricken gegen den Kapitalismus? Undenkbar.
Gudrun Ensslin, Bernward Vesper: „Notstandsgesetze von Deiner Hand – Briefe 1968/1969“, Suhrkamp, 292 Seiten, 12 Euro / Beitragsbild von Wikipedia