Ein spätes Debüt legt die 1969 in Bozen geborene Germanistin und Kunstwissenschaftlerin Christine Vescoli vor mit ihrem Roman „Mutternichts“ – der zweiten Veröffentlichung binnen weniger Wochen. Bereits im Dezember gab sie gemeinsam mit Theresia Prammer einen Band zu Ilse Aichinger in der Edition Korrespondenzen heraus unter dem Titel „Was für Sätze“. Mehr vom Schweigen statt von ausgesprochenen Sätzen erzählt nun der „Mutternichts“-Roman, eine poetische Spurensuche nach Leben und Vor-Leben einer Frau, die nach schwerer, entbehrungsreicher Kindheit ihren Trost im Glauben gefunden hat.
Wenig ist bekannt über das Schweigen der Mütter, das ganz andere Gründe hat als das hierzulande sprichwörtlich gewordene Schweigen der Väter nach dem Zweiten Weltkrieg. Erst langsam gerät diese besondere Form der Empfindsamkeit in den literarischen Blickpunkt, wie jetzt im „Mutternichts“-Roman von Christine Vescoli. Die Geschichte erzählt äußerst zurückgenommen von einer schweigsamen, selbstunsicheren Mutter, über die nicht viel bekannt ist, weil sie kaum Auskunft gegeben und nach ihrem Tod lediglich eine Handvoll Erinnerungsstücke hinterlassen hat.
„Ich habe Mutter nie geschrieben und Mutter nie mir. Es gibt die eine oder andere Karte, einen Gruß oder Wunsch, die in einer Schublade liegen. Aber keinen Brief, den ich aufbewahren könnte. Was es zwischen uns zu sagen gab, lag immer anderswo als in geschriebenen Worten. Und die gesprochenen waren oft nicht die, die in ihr lagen.“
Brocken und Brüche
Der Tochter erscheint es, als habe sich zeitlebens ein Nichts über oder hinter die Mutter gelegt. „Nichts zu sein und nicht zu sein waren für meine Mutter eins“, erinnert sie – und hofft, dass es ihr endlich gelänge, hinter dieses Nichts zu blicken, um es in Worte zu fassen. Doch: „Wie soll man über ein Nichts schreiben, aus dem vermutlich nichts zu holen ist außer ein weiteres Nichts“, fragt sie und erzählt deshalb nur en passant von gemeinsamen Erlebnissen mit der schweigsamen Mutter. Stattdessen berichtet sie über ihre Recherchereise zu den vermeintlichen Ursachen dieses Schweigens.
Zu Beginn hat sie „Brocken und Brüche von Erzählungen“, einige Fotos, Zeitungsausschnitte, Bücher, wenig Material. Doch ihr Entschluss steht fest, tief hinabzusteigen, bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, und zwar in Form einer Suchbewegung, die sie selbst als Stochern beschreibt. Den wenigen Hinweisen wird dieser Text abgerungen, behutsam das Mutterleben geborgen, teilweise dichterisch angereichert und die zahlreichen Leerstellen mit poetischen Mutmaßungen verfüllt.
„Beim Pichler fängt die Geschichte meiner Mutter an. Dort ist sie als drittes Kind im April 1940, im zweiten Kriegsjahr, geboren. Die Welt, in die sie hineingeboren wurde, war arm, klein und niedrig, sodass man sich in der Kammer, in der Mutter in die Welt gepresst wurde, bücken musste, und das Licht, das sie erblickte, recht ausgebleicht darin hauste.“
Eine existentielle Traurigkeit
Das sind Sätze die selbst ächzen, man spürt mit dieser Sprache die Mühsal der Gebärenden in dieser besonderen Situation, das schwerfällige Dasein ganz allgemein, das sich hier in einem der vielen Südtiroler Seitentäler ereignet. Aus diesem Seitental ist die Mutter schon als Kleinkind fortgeschickt worden. Warum ihre Eltern entschieden haben, sie auf einen anderen, nahegelegenen Bauernhof zu geben, ist das große Rätsel von Vescolis Roman.
Es ist ein Geheimnis, über das die Mutter lediglich sagt: „Man gehört nicht mehr dazu.“ Eine existentielle Traurigkeit liegt in dieser schon so früh getroffenen Feststellung. Und damals war es, dem Text folgend, durchaus in jener Gegend üblich, Kinder aus dem Haus zu geben, zumeist aufgrund bitterer Armut. Aber: „In der Familie meiner Mutter war es nicht notwendig gewesen, ein Kind wegzugeben. Nichts, nichts zwang sie dazu. Kaum war meine Mutter aus dem Haus, kamen weitere Kinder zur Welt, und keines davon wurde weggegeben.“
Transgenerationell weitervererbt
Die Mutter muss bereits im zarten Alter von acht Jahren als sogenannte Dirn, als Bauernmagd schuften, den Boden fremder Leute schrubben, Butter schlagen, spinnen, flicken, Socken stopfen. Ihrer Tochter wird sie später nicht von den Entbehrungen berichten, sondern stattdessen angeben, sie habe eine gute Kindheit auf dem Bauernhof verlebt.
Erst durch Nachforschungen bekommt die Tochter eine Ahnung vom tatsächlichen Trauma dieser Frau, die sich nie irgendwo dazugehörig gefühlt haben muss. Die Tochter vermutet, dass diese Gemütsstörung transgenerationell weitervererbt worden ist, von der Urgroßmutter auf die Großmutter, dann von der Mutter auf sie selbst, das zurückgebliebene, fragende Kind, das erst im sechsten Lebensjahrzehnt einen angemessenen Zugang zu diesen verschütteten Geschichten findet, zum „Mutternichts“. Es macht sie augenscheinlich wütend, dieses Nichts möchte die Tochter an der Gurgel packen und zudrücken, denn: „Es darf nicht die Täuschung gewesen sein, in der es mit mir spielte, es darf nicht eine Angst von uns übrigbleiben, leer, grundlos, fraglos, sinnlos, stumm und vergebens, stumpf wie ein schwarzer Stern, erloschen, lose und schwer wie Teer und am Ende nichts als endlos traurig. Mutter, ich will sehen, was du vor mir verborgen hieltest, und es war doch die ganze Zeit da.“
Die Passion Christi
Karg ist dieser Weg aus der Sprachlosigkeit hin zum nun vorliegenden Roman. Wenn seit über einhundert Jahren geschwiegen wird, gibt es keine Wörter, die am Wegesrand aufgeklaubt werden können. Entbehrungen, Hunger und Not prägen die hier beschauten Jahrzehnte. Kein Wunder ist, dass sich die Mutter während ihrer letzten Jahre mehr und mehr zurückzieht in die tröstende Welt der Gebete und Bibellektüren. Hier kann sie mitleiden, in der Passion Christi ihre eigenen Erfahrungen gespiegelt sehen.
„Wenn der Gottessohn das Kreuz auf sich nahm und mit dem Kreuz alles Leid der Welt, wurde sie mit jeder Stunde gedrückter. Wenn er auf den Kalvarienberg stieg und nachmittags um drei genagelt starb, war Mutter niedergeschlagen und stumm. Sie war fertig. Weil der Karfreitag ja immer auch ein Freitag und der Freitag ihr Putztag war, war sie am Karfreitag doppelt so fertig.“
Zu Beginn dieses kurzen Romans schaut die Tochter auf den Grabstein ihrer verstorbenen Mutter. Zwischen den zwei Datumsangaben ist kein Strich, „nichts, was die Zahlen verbindet.“ Diesen fehlenden Strich setzt Christine Vescoli mit ihrem späten Debüt, das einer schweigsamen Frau eine zurückgenommene, beinahe flüsternde Stimme verleiht. „Mutternichts“ ist der gelungene Versuch über ein Leben. Einst wurde es von der Geburt bis zur Bahre übersehen – und gerade deshalb jetzt zur Literatur erhoben als Beispiel für Millionen ähnlicher Leben, die stattgefunden haben: im Verschwiegenen, im Verborgenen, im lediglich scheinbaren Nichts.
Christine Vescoli: „Mutternichts“, Otto Müller, Salzburg-Wien, 172 Seiten, 24 Euro