Die Beat-Generation begann 1944 mit einem Mord, über den William S. Burroughs und Jack Kerouac einen Roman schrieben, der erst jetzt veröffentlicht wird.
Es geschieht an einem schwülen Morgen im August: Zuerst sticht der 19-jährige Lucien Carr seinen 14 Jahre älteren Lover David Eames in die Brust. Dann bindet er ihm die Arme mit Schnürsenkeln zusammen. Weil er glaubt, sein Opfer sei bereits tot, stopft er ihm Steine in die Hosentaschen und versenkt ihn im Hudson-River von New York. Aber David Eames ist nicht tot – er lebt. Noch. Wie lange? Das kann niemand wissen. Mehrere Stunden und etliche unter Stress gerauchte Zigaretten später beichtet Carr seinem 22-jährigen Kommilitonen Jack Kerouac: „Ich habe mir letzte Nacht den alten Mann vom Hals geschafft“ (so steht es im Roman; wie mag sein wahre Wortlaut an diesem Tag gewesen sein?).
Nun gehen die beiden nicht zu einem Anwalt oder zur Polizei, wie man es erwarten könnte, und was der 30-jährige William Burroughs, bei dem Carr ebenfalls aufgetaucht war, geraten hatte. Nein. Stattdessen ziehen die Jungs einen Tag lang durchs leuchtende New York. Sie besaufen sich. Sie gehen in Ausstellungen. Sie sehen sich Filme an. Es wird eine große Abschiedsparty, eine Feier gegen den Schrecken. Im Roman wird erzählt, wie sie sich einen Vierteldollar in Pennies wechseln lassen, „und wir spielten an Flipperkästen, schossen feindliche Flugzeuge ab und sahen uns die gewagten Penny Movies an, in denen Frauen sich im Boudoir auszogen, während Männer mit Schnurrbärten über die Feuerleiter bei ihnen einstiegen. Ich warf 5 Cent in die Jukebox und drückte Benny Goodmans The World Is Waiting for the Sunrise“.
Erst am darauf folgenden Morgen stellt sich Lucien Carr der Polizei. David Eames wird 24 Stunden später auf Höhe der 79th Street ans Ufer gezogen– und der bizarre, bis heute nicht komplett rekonstruierte, dieser durch und durch ambivalente Mord ist wochenlang in den New Yorker Zeitungen Thema Nummer eins. Es wird wild spekuliert. Hat Carr aus Notwehr gehandelt, weil er sich vor den Nachstellungen seines schwulen Lehrers schützen, weil er seine „heterosexuelle Ehre“ verteidigen wollte? Erst 2006 wird mit der Veröffentlichung von Allen Ginsbergs Tagebüchern herauskommen, dass Carr eben nicht nur mit Eames, sondern auch mit Ginsberg geschlafen, dass er seinen tatsächlich bisexuellen Neigungen überaus gern nachgegeben hat.
Irgendwann verschwindet die Sensationsgeschichte von den Titelseiten und Carr verschwindet auch, in die Besserungsanstalt Elmira. Aus den Köpfen der Freunde, die anderthalb Jahrzehnte später mit „On the Road“ (Kerouac) und „Naked Lunch“ (Burroughs) berühmt werden sollen, verschwindet dieser Mord allerdings nicht. Um dagegen anzukommen schreiben sie gemeinsam einen wilden, einen „hard-boiled“ Roman, der von ihrer Clique handelt, von den überbordenden Partys und den vielen Drogen, vom Sex, dekadenten Restaurants und von männermordenden Vampirmädchen. Sie schreiben über die grellen Lichter der Grossstadt; über diese hyperaktive Aufbruchsstimmung am Abend des Zweiten Weltkrieges, mit dessen Ende im zertrümmerten Europa von 1945 die Vereinigten Staaten von Amerika zur Weltmacht des Jahrhunderts aufsteigen werden.
Etwas Gewaltiges liegt in der Luft, das spüren sie alle. Doch wie schnell die Euphorie verschwinden kann, das ahnt in diesem Roman keiner von ihnen – und auch dass sie es tatsächlich hätten ahnen können, in der Realität, ist schwer vorstellbar. Vielleicht, weil sie wie betäubt durch ihr junges (Studenten-)Leben taumelten? – “Ich holte ein Glas Wasser und stellte es auf die Kommode, dazu einen Spiritusbrenner, einen Esslöffel, eine Flasche reinen Alkohol und etwas Watte. Aus der Schublade holte ich eine Subkutanspritze sowie ein paar Morphintabletten aus einem mit “Benzedrin” beschrifteten Arzneifläschchen. Ich teilte eine Tablette mit einer Messerklinge in zwei Hälften, maß mit der Spitze Wasser auf den Löffel ab und ließ eine ganze und eine halbe Tablette hineinfallen.”
Das ist er, der unverwechselbare Ton der Kerouac und Burroughs später zu Legenden werden lässt, extravagant, hyperrealistisch, verdrogt. Doch Ende der 1940er Jahre interessierte sich kein Verlag für ihr Manuskript. Immer wieder versuchten Burroughs und Kerouac ihr Glück. Irgendwann gaben sie die Suche auf. „Und die Nilpferde kochten in ihren Becken“ wird zur Legende, zum ebenso sagenumwobenen wie unbekannten Beginn einer literarischen Epoche, der „Beat-Generation“, die Levi Asher, der 1961 geborene New Yorker Kultautor und Begründer von litkicks.com einmal mit „einer kleinen, dunklen Spelunke um zwei Uhr morgens“, verglichen hat, „wenn alte Jazzmusiker gemeinsam auf der Bühne jammen, während Jack Kerouac eine Runde nach der anderen an der Bar bestellt.“
Wer „Und die Nilpferde kochten in ihren Becken“ gelesen hat, dem schwirrt anschließend der Kopf, als habe man selbst in einem euphorischen Augenblick zum Fixerbesteck gegriffen und sich einen verdammten Schuss gesetzt. Alle Sinne scheinen verschoben, der Boden unter den Füßen schwankt. Abschliessend weiss man nur, dass ein Mensch qualvoll verendet ist, hilflos ertrunken. Ohnmächtig trieb er im Fluss, blutend, ohne Chance, sein Leben zu retten. Dass ihn dieser zweifelsfrei große Roman unsterblich macht, hilft David Eames de facto nichts. – Lucien Carr wurde aus der Besserungsanstalt entlassen. Später arbeitete er als Redakteur bei der Presseagentur UPI. Carr starb am 28. Januar 2005. Er wurde 79 Jahre alt.
William S. Burroughs, Jack Kerouac: “Und die Nilpferde kochten in ihren Becken”, übersetzt von Michael Keller, mit einem Nachwort von James Grauerholz, Nagel & Kimche, 190 Seiten, 17,90 Euro / Das Hörbuch erscheint bei DAV, gelesen von Felix Goesner und Florian von Manteuffel, 4 CDs, 250 Minuten, 24,99/ Link: Bright Lights, Big City – mehr zur Beat-Liteartur gibt es auf der Seite von Literary Kicks
Kerouac reißt die Episode auch in „Die Verblendung des Duluoz“ an…
[…] einem verdammt ausgedehnten Land. Sie spielen im 19. Jahrhundert bei den Mormonen, in den 50ern bei Beatpoet Jack Kerouac und im Jetzt, wenn einem Sterbenden Shania Twain erscheint. Amerika in der Nussschale quasi – […]