Anlässlich des 200. Geburtstages von Theodor Storm gab es im Büchermarkt eine komplette Sendung zu jenem Dichter, von dem selbst jetzt, im Herbstprogramm 2017 unbändig viel zu lesen ist: das beste Buch kommt von Jochen Missfeldt (Jahrgang 1941), einem der bedeutsamsten Storm-Experten unseres Landes. Es heißt „Sturm und Stille“ und erzählt die Liebesgeschichte zwischen dem Husumer Dichter und der Kaufmannstochter Dorothea Jensen.
Jochen Missfeldt, die Herausgeber Christian Demandt und Philipp Theisohn schreiben im Vorwort: „Das vorliegende Handbuch (…) versteht sich als Dokument eines nie versiegten und in jüngster Zeit deutlich erstarkten Interesses an seinem Werk.“ Weshalb ist das Interesse in den vergangenen Jahren derart gestiegen – und in welcher Weise liegt dieser Anstieg am besagten Jahrestag? Ich glaube, es liegt nicht nur am Jahrestag, an dem natürlich auch, weil es ein besonderer ist, mit der Zahl 200. In erster Linie aber liegt das an Storm selber, an seinem Werk, an seinen Gedichten und Novellen. Seit Werk liegt seit den 1980er Jahren hervorragend ediert in einer vierbändigen Ausgabe des Klassiker-Verlages vor, herausgegeben von zwei Altmeistern der Storm-Forschung, von Karl Ernst Laage und Dieter Lohmeier. Es liegt aber auch an Storms Briefen, die er mit berühmten Persönlichkeiten seiner Zeit austauschte, zum Beispiel mit Theodor Fontane und Gottfried Keller. Die meisten – oder fast alle dieser Briefwechsel, sind kritisch herausgegeben worden und lesen sich sehr, sehr schön. Es liegt aber auch an der heutigen Storm-Forschung. Philipp Theisohn und Christian Demandt, die Herausgeber dieses Handbuches sind zwei von den nicht wenigen jungen Vertretern, die auf vielfältige Weise die Storm-Forschung bereichern und voranbringen. Und es sind auch eine ansehnliche Reihe weiterer junger Kollegen dabei. Zur Storm-Gesellschaft muss man sagen, dass es ein sehr lebendiger Verein ist mit über tausend Mitgliedern. Jedes Jahr zu Storms Geburtstag trifft man sich in Husum. Man will nicht nur den Dichter feiern, sondern auch hören, was es Neues in der Storm-Forschung gibt.
Wie wurde aus dem einst als Heimatdichter Geschmähten jener kanonische Großschriftsteller, auf den sich nicht nur Sie, sondern auch zahlreiche andere Schriftsteller, oft jene aus den Niederlanden, beziehen? Das hängt mit der Storm-Forschung zusammen, die sich nach dem Krieg neu ausrichtete und zwar veranlasst durch den Begründer dieser neuen Richtung, an Karl Ernst Laage, der der Nestor der neuen Storm-Forschung ist. Er verstarb kürzlich erst im hohen Alter von fast hundert Jahren. Ihm ist es auch zu verdanken, dass aus dem Vorwurf „Heimatdichter“ so etwas geworden ist wie ein Dichter der in aller Welt zu Hause ist. Unsterblich hat unseren Dichter Storm das Werk natürlich gemacht, das er hinterlassen hat und er hat so wie kaum ein anderer Dichter in seinem Jahrhundert die großen Themen von Liebe und Hass, Schuld und Verstrickung auf eine berückende Weise erzählt. Alles, fast alles spielt vor dem Hintergrund seiner nordfriesischen Heimat – und deswegen sprach sein Kollege und Freund oder Fast-Freund Fontane etwas abfällig von Storms „Husumerei“ – das mag auch der Grund gewesen sein, warum man ihm das Verdikt „Heimatdichter“ anhängte. Ein Heimatdichter ist er meinetwegen auch, aber einer, den man auch in Japan, China und Amerika liest und versteht.
Das bei J.B. Metzler Stuttgart vorliegende Storm-Handbuch möchte die produktive Energie der verschiedenen Perspektiven und Methoden zu bündeln und sie all denen verfügbar zu machen, die sich zukünftig um Storm bemühen. Es gibt einen umfangreichen Abriss über Storms Leben. Es gibt Artikel über Storms Bibliothek und über seine mäßige Befähigung als Jurist – seinem Brotberuf. Es gibt Artikel über seine Gedichte, Novellen, auch einen Blick in unterschiedliche Briefwechsel und, das finde ich besonders hübsch, eine Übersicht jener vor allem posthumer Diskurse – von den Gender-Studies bis zu Storm-Adaptionen im Film. Sie selbst haben die beiden Texte „Herkunft“ und „Anwalt in Husum, junge Ehe und erst Erfolge als Dichter“ beigetragen – wie beurteilen Sie die Betrachtungen zu einzelnen Werken? Auch jetzt noch, nachdem ich mich mit Storms Werke wegen meiner Biographie ausgiebig beschäftigt habe, sind diese Betrachtungen in dem neuen Buch eine Fundgrube. Das liegt aber nicht nur an den Textbeiträgen, die dort versammelt sind, sondern in erster Linie daran, dass vor allem Storms Novellen selber eine schier unerschöpfliche Fundgrube sind. Da ist so schnell nichts ausgeforscht, da tut sich immer wieder Neues und Überraschendes auf, wie ich finde. Darin liegt wohl auch der Grund, warum sich gerade junge Storm-Forscher für sein Werk interessieren. Die Jungen wollen Neues entdecken, sie wollen es befragen und Antworten geben. Das ist doch typisch für die Jugend. Also, die Lektüre dieses Handbuches lohnt sich.
In ihrem gerade erschienenen Roman „Sturm und Stille“ erzählen Sie aus der Sicht von Storms zweiter Ehefrau Dorothea, einer Kaufmannstochter. Was ist das Besondere an dieser Liebe, die Storm selbst einmal beschrieb als „ein Verhältniß der erschütterndsten Leidenschaft (…), das mit seiner Hingebung, seinem Kampf und seinen Rückfällen jahrelang dauerte und viel Leid um sich verbreitet“? Mit dem Zitat hat Storm diese Liebe komplett beschrieben. Das Besondere an dieser Liebe ist wohl, dass sie die Zeit des Storm-Exils und die Zeit des Exils von Doris, die Husum verlassen musste, viele Jahre überdauerte. Doris hat immer an dieser Liebe festgehalten, wie vielleicht auch Storm ganz im Hinterkopf an dieser Liebe festhielt. Sie muss eine attraktive Frau gewesen sein. Storm sagte, eine herbe Schönheit sei sie. Dass es in dieser Liebe, es war ja keine Dreiecksbeziehung, sondern es war eine Liebe außerhalb der Ehe, dass es dort Eifersucht, Verletzung und Entsagung gab, ist klar. Storm liebte seine Ehefrau Constanze. Für alle drei muss es sehr schwierig gewesen sein, aber, ich sage: Hut ab, zerbrochen ist nichts, kein Mord und Totschlag; die Liebe war stärker.
Sehr früh lassen Sie Dorothea (Doris) Jensen, so ihr Geburtsname, in Ihrem Roman anmerken: „Storm hat seine Sachen ja immer aus dem Leben gegriffen.“ In welcher Weise hat er das getan? Auch Storm hat wahrscheinlich erlebt, wie jedermann das heute erleben kann, dass die Phantasie von der Wirklichkeit immer übertroffen wird. Die Phantasie hinkt der Wirklichkeit immer ein Stück hinterher – und Storm musste nur in die Wirklichkeit hineingreifen, also ins eigene volle Menschenleben. Er tat es, und dann hatte er was er brauchte für seine Gedichte, für seine Novellen. In seinen Liebesgedichten, die zu den schönsten gehören, die wir in der deutschen Literatur haben, spiegelt sich die Leidenschaft für Doris Jensen wider. In seinen Novellen finden sich viele biographische Bezüge; Husum, die graue Stadt am Meer ist immer präsent. Menschen aus der Nachbarschaft tauchen auf. Alles, was Storms Heimat war bezog er in seine Dichterwelt mit ein.
Daran anschließend, lieber Jochen Missfeldt: Sie sind der bedeutendste Theodor Storm-Biograph. Sie haben mitgearbeitet am Storm-Handbuch, Sie haben über den großen Dichter umfangreich geforscht – wie gestaltete sich formal die Umgestaltung von recherchierbarer Biographie zur Poesie, die Sie passenderweise von einem Herbstabend unserer Zeit ausgehend in „Sturm und Stille“ schaffen? Auch für die Poesie muss ein Autor recherchieren. Das ist die Erfahrung von Storm selber gewesen, der für den Schimmelreiter eine unendliche Recherchearbeit leistete, bevor er endlich so weit war, dass er sich hinsetzen konnte, um die Novelle niederzuschreiben. Recherchieren in historischem Material, recherchieren in und mit der eigenen Phantasie, das war auch für den Roman notwendig und da es über oder von Doris über diese Zeit ihres „Exils“ – ich sage das mal in Anführungsstrichen – kaum Material gibt, musste ich Vieles erfinden und meine Phantasie spielen lassen, ihr meine Worte in den Mund legen. Es macht für mich auch keinen großen Unterschied, Sachbuch oder Roman. Beim Sachbuch fällt es leichter, bei der Sache zu bleiben, der Roman lässt dem Autor mehr Freiheit in der Gestaltung, aber gerade diese Freiheit kann zum Problem werden, weil sie den Autor auch mal in die Irre führen kann.
Heute ist der 200ste Geburtstag von Theodor Storm – ein Anlass, um über ihn zu sprechen, aber mitnichten der einzige Grund, um seine Werke zu lesen. Herr Missfeldt, bei der schier unüberschaubaren Menge an verfügbaren Storm-Ausgaben: Was sollten der neu Interessierte lesen, wenn er beginnen möchte mit der Lektüre und zu welchem Buch würden Sie wiederum dem informierten Kenner raten? Für den Storm-Anfänger würde ich sagen, unbedingt mit dem Schimmelreiter anfangen, wegen seiner Modernität und der vielen aktuellen Bezüge. Das macht dann Appetit auf mehr – und es gibt auch eine Fülle von interessanten Buchprojekten zum Schimmelreiter, Kinderbücher, Comics, die zu dem Thema verfasst worden sind. Für den Storm-Kenner empfehle ich die nicht sehr bekannte Novelle „Beim Vetter Christian“. Da kann man einmal etwas von dem eher seltenen Humor unseres Husumer Dichters kennenlernen. Auch „Die Söhne des Senators“ kann man in diese Kategorie mit einordnen, auch da ist ein subtiler Humor, der den Leser sehr erfreuen kann. Dann eine Empfehlung für jedermann: das Weihnachtsgedicht „Knecht Ruprecht“, das sollte man vielleicht mehrere Male lesen, damit man es irgendwann mal auswendig vor sich hinsagen kann, um es dann dieses Weihnachten vor dem Tannenbaum aufzusagen.
Jochen Missfeldt: „Sturm und Stille“, Rowohlt, Reinbek, 352 Seiten, 22 Euro / Christian Demandt und Philipp Theison (Hgg.): „Storm Handbuch. Leben, Werk, Wirkung“, J.B. Metzler Stuttgart, 426 Seiten, 89,95 Euro / Theodor Storm: „Sämtliche Werke“, Deutsche Klassiker Verlag, Berlin, vier Bände, 4528 Seiten. 282,- Euro