Straßenfeger-Noir

Mit Romanen wie „Melodien“, „Fette Welt“ oder „(UC) Ultrachronos“ avancierte Helmut Krausser zu einem der interessantesten und erfolgreichsten deutschen Schriftsteller der 1990er und frühen 2000er Jahre, zum Publikums- und „Writer’s writer“ gleichermaßen. Im Juli feierte er seinen 60. Geburtstag und machte sich selbst ein literarisches Geschenk: den Roman „Freundschaft und Vergeltung“.

„Cold Cases“ – also ungelöste, ad acta gelegte Verbrechen – sind eines der beliebtesten Genres zahlreicher True-Crime-Podcasts und Streaming-Doku-Serien. Mit „Freundschaft und Vergeltung“ erzählt Helmut Krausser jetzt einen erfundenen, literarischen Cold Case aus dem verstockten England der mittleren 1960er Jahre.

„Es war eine Gnade, in einer Zeit zu leben, in der jedes Jahr noch so beschissen sein konnte, in dem man aber ein neues Beatles-Album erwarten durfte.“ Das sagt Anthony Brewer, zur Zeit der „Help!“- und „Rubber Soul“-Platten backfischjunger Eleve des altehrwürdigen Knabeninternats Raven Hall im Süden Englands, „keines der ganz hochklassigen Häuser wie etwa Eton, doch mit einem alten Namen versehen, samt einem bis dahin recht anständigen Renommee.“

Anthony ist fügsamer Teil einer deutlich unter Testosteronstau leidenden Clique um Haudrauf Christian Bradshaw. Dessen stinkreicher Vater John hat das notorisch klamme College vor der drohenden Insolvenz gerettet. Erleichtert wirkt dessen verbliebene Lehrerschaft um die gintrinkende Direktorin Iris Pinkerton, den rätselhaften Mathelehrer Zachary Wright und zuvörderst der beiden weiblichen, äußerst begehrenswerten Lehrerinnen Abigail Jenkins und Deborah Rodgers.

„Es kursierten, das ist durchaus von Wichtigkeit, Gerüchte, dass Deborah in den Sommerferien, vielleicht sogar schon vorher, eine Affäre gehabt hatte mit John Bradshaw, dem Keramikfabrikanten aus Brighton. Man munkelte, dass ebendiese Liaison dazu beigetragen habe, Raven Hall vor der Schließung zu bewahren.“

Dunkle Winterwochen

In dieses Internatssetting situiert Krausser seine wendungsreiche Geschichte um verheimlichte Affären, jugendliches Begehren und mehrere Vermissten-, vermutlich sogar Todesfälle. Diese stehen im mirakulösen Mittelpunkt des Romans. Auf eine Location begrenzt evoziert Krausser ein Flair alter Schwarzweiß-Straßenfeger der 1960er Jahre, von Agatha Christie, Edgar Wallace oder Alfred Hitchcock. Sein Ich-Erzähler Anthony Brewer berichtet aus dem Abstand mehrerer Jahrzehnte. Nach seiner erfolgreich beendeten Anwaltskarriere möchte er die verstörenden Ereignisse jener dunklen Winterwochen erhellen, in denen Kabale, Liebe und Gewaltausbrüche den abgeschiedenen Internatsalltag verdüsterten.

„Mir wurde schmerzlich bewusst, dass ich die letzten Jahrzehnte viel effektiver hätte nutzen können. Zu meiner Entschuldigung kann ich anführen, dass es vor der Digitalisierung der Welt einfach nicht diese Möglichkeiten gegeben hatte, Sachverhalte kurzfristig zu recherchieren.“ – Helmut Kraussers „Freundschaft und Vergeltung“ ist ein Medienroman, der seine Geschichte entlang zahlreicher Interviews, Verhörprotokolle, Chats und Blogeinträge, Postkarten und Telefonate, Scans und maschinengetippter Briefen erzählt. Wie in einem Kriminal-Gesellschaftsspiel beleuchtet die Geschichte einen Fall, der oft kurz vor seiner Auflösung steht, dann eine weitere, äußerst rätselhafte Wendung nimmt.

Es bleibt ein Mysterium

„Ich will keine verstiegenen Vergleiche bemühen, aber sieh dir zum Beispiel den Fall Jack the Ripper an. Kein Mensch würde heute noch darüber reden, wäre dessen Identität je mit letzter Sicherheit gelüftet worden.“ Diese Nachricht erhält der alte Anthony Brewer vom mutmaßlichen Täter jener so lang zurückliegenden Jahre, der offensichtlich mehrere Leben auf seinem Gewissen hat. Doch wer ist dieser Mann? Er ist ein Mysterium, will es bleiben, so wie der Roman selbst ein tieferes, literarisches Geheimnis birgt.

Mit „Freundschaft und Vergeltung“ findet der große Helmut Krausser zur erzählerischen Eleganz früherer Romane, in einem Stil, der derbe Figurensprache mit einer souveränen Erzählerstimme verbindet, die Feier der Jugend und die Melancholie des Alters kontrastierend – ein Werk, das nach Aussage des Autors sechs Jahre seines Lebens in Anspruch genommen hat. Und man kann es nicht anders sagen: Jeder Arbeitstag hat sich mit dieser Veröffentlichung ausgezahlt. Das größte Geschenk zum 60. Geburtstag hat sich Helmut Krausser schlechterdings selbst gemacht.

Helmut Krausser: „Freundschaft und Vergeltung“, Berlin Verlag, 352 Seiten, 25 Euro

Jan Drees

Ich bin Redakteur im Literaturressort des Deutschlandfunks und moderiere den „Büchermarkt“.

Im Jahr 2000 erschien mein Debütroman „Staring at the Sun“, 2007 folgte ein überarbeiteter Remix des Buchs. Im Jahr zuvor veröffentlichte der Eichborn-Verlag „Letzte Tage, jetzt“ als Roman und Hörbuch (eingelesen von Mirjam Weichselbraun). Es folgten mehrere Club-Lesetouren (mit DJ Christian Vorbau). 2011 erschien das illustrierte Sachbuch „Kassettendeck: Soundtrack einer Generation“, 2019 der Roman „Sandbergs Liebe“ bei Secession. Ich werde vertreten von der Agentur Marcel Hartges in München.

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