Schönes aus der Schweiz: Peter Stamm und Silvio Huonder begeistern mit zwei neuen Erzählungsbänden. Bemerkenswert leicht schreibt Peter Stamm in „Wir fliegen“ über stille Augenblicke. Er findet Worte über das Schweigen. Er brilliert. Silvio Huonders Geschichten in „Wieder ein Jahr, abends am See“ sind dagegen hitziger, nervöser gestaltet, sie rücken einem auf verschwitzte Art und Weise nah. Das gleißende Licht, in dem Huonders Helden stehen, führt zum Sonnenbrand, man verbrennt sich leichter. Hier ist kaum Trost. Während Peter Stamm Schutzräume errichtet, reißt Silvio Huonder ganze Leben nieder und auf das große Glück folgt immer wieder die unausweichliche Katastrophe.
„Es war Glück, das sich wie Unglück anfühlte“, denkt der zurückgewiesene Junge während er im Schwimmbad durchs Gras streift. „Männer und Knaben“ heißt diese Geschichte von Peter Stamm, in der ein Bub von großer Pubertäts-Melancholie erfasst wird: „Wenn er mit anderen zusammen war, hatte Lukas immer das Gefühl, als schlössen sich seine Poren, er fühlte sich klein und war sich seines Körpers fast schmerzhaft bewusst.“ Allein wenn Franziska, sein Schwarm, am Beckenrand steht, lächelt, fühlt sich Lukas ein bisschen angenommen. „Er wollte sie umarmen, aber er wusste nicht wie.“ Er schleicht sich in die leere Frauenkabine, als berge sie das unfassbare Geheimnis um Franziska. Dann schleicht er sich wieder hinaus, nackt, schutzlos, verwirrt, unverrichteter Dinge. Allein seine Badehose hat er dort, im verbotenen Raum vergessen. Lukas wird Franziska nicht bekommen. Aber Peter Stamm schreibt das nicht explizit rein, in die Geschichte, er lässt diesen Sommertag sanft verstreichen, ausklingen. Und nur ein sensibles Herz wird nachfühlen können, welche Qualen den jungen Mann martern werden, jetzt, bis in die tiefe Nacht.
Wer „Wir fliegen“ zur Hand nimmt, der muss sich unweigerlich öffnen, sensibel werden wie die Helden in Peter Stamms Geschichten. Er muss sich fügen, einlassen, auf das gezeigte Leben. Eine Frau heiratet einen Mann, „der sie mehr liebte als sie ihn“, doch sie erträgt es irgendwie. Es gibt Einsame, die lauschen an Wänden und andere Außenseiter fühlen sich seit dem Tod ihrer Mutter von obskuren Agenten verfolgt. Wenn ausnahmsweise ein Verehrer mit Geschenken vor ihnen steht denken sie: „Ich bekomme selten Blumen, eigentlich nie und selber kaufe ich mir auch keine. Viele kommen aus der Dritten Welt und die Männer, die sie pflücken, werden steril von den Spritzmitteln.“ Es ist erstaunlich, wie zurückgenommen, flüsternd Peter Stamm das melancholische Leben erfasst. Als eine Witwe entdeckt, dass ihr verstorbener Ehemann fremdgegangen ist, liest sie die heimlichen Liebesbriefe, „ohne an Manfred zu denken, als das Zeugnis einer Leidenschaft, die jedes Hindernis und jede Distanz überwand.“ Es ist ein Glück, das sich für die Frau wie ein Unglück anfühlen müsste. Stattdessen denkt sie „an die Vertrautheit zwischen ihnen, an seine Zärtlichkeit und daran, wie sehr sie ihn vermisste.“
Bei Silvio Huonder fühlt sich kein Glück wie Unglück an. Das Unglück liegt hier schmerzhaft offen. Ein Junge, „Tobi“, hat seine Mütze vergessen, er ist also auch schutzlos, und man denkt zunächst, so schlimm könne dieses Vergessen niemals sein. Doch dann kommt er heim, zu seiner manisch depressiven Mutter, die mit Blick zur Wand im Nähzimmer auf ihn wartet, sich irgendwann entkleidet und nackt auf die Straße läuft, noch viel schutzloser ist, als der Junge ohne seine Mütze. Plötzlich gibt es diese Diskrepanz zwischen den Ängsten, die Tobi im ersten Absatz wegen einer Mütze hatte und dem grausamen Schmerz, den er jetzt wegen seiner völlig unbekleideten Mutter verspürt. „Mama, sagte er.“ Und bekommt keine Antwort. Grausam.
Vergessen und Sprachlosigkeit bestimmen die meisten Geschichten dieses Bandes. „Stille Tage in Österreich“ erzählt von einem unsouveränem Liebhaber, der seinem Mädchen 500 Schilling geliehen hat. Jetzt gehen sie nebeneinander her und sie spricht ihre Schulden mit keiner Silbe an, sie lässt ihn als Idioten stehen. Als er sich vorwagt, das Thema anschneidet, überredet sie ihn, drei Lotterielose zu zehn Schilling zu kaufen. „Wenn er etwas gewinnen würde, sollte der ganze Gewinn ihm allein gehören.“ Es ist klar, was auf diesen Losen stehen wird, dreimal hintereinander: „Leider nicht“, es sind Nieten. Zuletzt wird die Trafik, das Kioskhäuschen brennen. „Leider nicht“, es sind Nieten, gilt für keine Seite, keinen Satz der beiden Erzählungsbände „Wir fliegen“ von Peter Stamm und „Wieder ein Jahr, abends am See“ von Silvio Huonder. Die Schweizer Literatur präsentiert sich hier im besten Licht, sie leuchtet. Der Sommer kann beginnen.
Peter Stamm: „Wir fliegen“, S. Fischer, 180 S., 17,90 Euro // Silvio Huonder: „Wieder ein Jahr, abends am See“, Nagel&Kimche, 180 S., 17,90 Euro