Murathan Mungan ist einer von etlichen Exzentrikern des türkischen Literaturbetriebs. Er lebt offensiv schwul und schreibt explizit, provokant, ereignisreich. Seine Erzählung „Tschador“ war ein Höhepunkt des türkischen Gastlandauftritts auf der Frankfurter Buchmesse 2008, weil sie Apokalypse, Feminismus, politische Kritik und Travestie in ein nahezu nüchternes Erzählkorsett schnürte.
In der türkischen Gegenwartsliteratur exponiert sich seit einigen Jahren eine ausgeprägte Melange von postmodernen und archaisch orientalen Erzählmustern, tabulos in jeder Art und Weise, dabei flächendeckend emanzipiert vom amerikanisch geprägten Filmerzählen. Rechtzeitig zur Ehrung Istanbuls als „Europäische Kulturhauptstadt 2010“ platziert der Blumenbar-Verlag nun Mungans neuen, erneut sehr feministisch durchwehten Erzählband „Städte aus Frauen“. Fünfzehn Geschichten berichten von geschiedenen Karrieristinnen, stutenbissigen Freundinnen und melancholischen Gattinnen. In der Türkei stand das Buch auf dem ersten Platz der Bestenliste. Vielleicht, weil auf der reinen Erzählebene überbordend viel passiert: Eine Mutter vergiftet sich mit Pflanzenschutzmitteln und verendet schaumspuckend vor den Augen ihrer Familie. Eine Kleinkriminelle wird im türkischen Gefängnis vom gewissenlosen Wärter vergewaltigt und gibt kurz nach der Geburt ihre gewaltsam gezeugte Tochter zur Adoption frei. Eine Ehefrau platzt unvermittelt in das homosexuelle Schäferstündchen ihres Gatten. Es fließt Blut.Es fließen Tränen.
„Als sie den Begriff Wasserhärtegrad kennenlernte, war er ihr seltsamerweise wie eine Maßeinheit erschienen, die auch auf das Leben anzuwenden sei; und auf der Schulbank war ihr dann gekommen, dass die für das Leben geeignetste Maßeinheit der Tod sein müsse“, heisst es über eine Gerichtsmedizinerin, die gerufen wurde, den Selbstmord eines Mädchens zu attestieren. Hier ist der Schrecken gegenwärtig. An anderer Stelle ist er längst passé. Einst vom Schicksal mitgenommene Frauen leben dann als Hinterbliebene ihrer selbst in mittelständischen Verhältnissen, und nur für die kurze Zeitdauer ihrer Erzählung setzen sie sich notgedrungen mit der Vergangenheit auseinander. Dann passiert wenigstens irgendwas. Wenn aber in anderen Geschichten lediglich ein paar Freundinnen gegenseitig in ihren Neurosengarten einladen oder melancholische Singles seitenlang über ihr Geworfensein sinnieren, wähnt man sich in einem belanglosen 90er-Jahre-Film mit Katja Riemann und Kai Wiesinger. „Jedes Detail im Haus wirkte wie eine Beglaubigung dessen, was Seher uns erzählte. In jedes Zimmer wurden wir geführt, und nirgends wurde mit Erläuterungen gespart. Seher brannte sichtlich darauf, ihren wahr gewordenen Traum herzuzeigen und fürchtete höchstens, wie könnten irgendwo einen Makel entdecken.“
Die Botschaft lautet also, dass selbst Stühle im Arne-Jacobsen-Stil und Alev-Ebbuziya-Schalen Tristesse und Midlife-Crisis nicht fernhalten können. – Bewundernswert ist allein die todesmutige Journalistin aus dem südostanatolischen Diyarbakır: „Ob es nun die vielen unaufgeklärten Verbrechen waren, die Ehrenmorde, die von der Notstandsverwaltung geduldete Korruption, die Übergriffe von Armee und Dorfschützern, der Drogen- und Menschenhandel, was immer es in der Region an dunklen Machenschaften gab, darüber berichtete Aslı in ihren Reportagen und Artikelserien.“ Hier möchte man mehr erfahren, während die Heldin auf einer Polizeistation wartet und wartet und wartet – doch am Ende ist ihr nur die Handtasche gestohlen worden, immerhin mit Rechercheunterlagen. Poesie? Nur in Spurenelementen vorhanden: „Melek war in dem Jahr geboren, als Nihal in die Mittelschule kam. Dass ihr Name Engel bedeutete, passte wunderbar zu dem entzückenden kleinen Wesen; ihr Teint war so wolkig weiß wie Engelsflügel.“ Das ist kitschig wie türkische Deckchen – Mungans „Städte aus Frauen“ besitzen die ungefähre Tiefe und Plastizität eines Google-Earth-Bildes von Istanbul in 2D.