Ein Style-Journalist auf Mallorca, der ewig grantelnde Autor Thomas Bernhard und eine geheime Erfindung: Im Roman „Die Murau Identität“ verlängert Alexander Schimmelbusch (bekannt durch sein prämiertes Debüt „Blut im Wasser“) das Leben von Österreichs schlechtestgelauntem Staatsbürger. Der Roman lehnt sich eng an den Bernhard/Unseld-Briefwechsel an, der vor einiger Zeit in einer bravourös kommentierten Ausgabe bei Suhrkamp vorgelegt wurde. Eine Doppellesung.
„Lieber Herr Bernhard, für was halte ich Sie, fragen Sie mich in Ihrem Brief vom 12. Juli. Nun, aufrichtig und ehrlich, für einen Schriftsteller großer Art, für einen Schriftsteller, der wichtige Arbeiten geleistet hat, und bei dem ich sicher bin, daß er noch bedeutendere schreiben wird. Und ich halte Sie für einen sympathischen Menschen.“ (Siegfried Unseld am 15. Juli 1968)
Auf den ersten Blick hat das Schmeicheln kaum Gegenreaktion provoziert: Von seinem Hausverlag Suhrkamp und dem Rest der Welt fühlte sich Thomas Bernhard ausgenutzt, betrogen, trotz Büchner-Preis nicht angemessen gewürdigt. „Höre ich meinen Namen aus dem Rundfunk, sehe ich mich im Dreck liegen, lese ich meinen Namen in der Zeitung, glaube ich, ich bin in einer Kloake.“ (22.11.1972) Mit sich und der Welt haderte Bernhard sehr, und trieb seine Gehässigkeiten so lange auf die Spitze, bis sein Verleger Siegfried Unseld per (klein geschriebenem) Telegramm am 24. November 1988 mitteilen lies: „fuer mich ist eine schmerzgrenze nicht nur erreicht, sie ist ueberschritten. nach all dem, was in jahrzehnten und insbesondere in den beiden letzten jahren an gemeinsamem war, desavouieren sie mich, die ihnen gewogenen und fuer sie wirkenden mitarbeiter, und sie desavouieren den verlag. ich kann nicht mehr.“ Diese kapitulierenden Worte kann man nachlesen in dem opulenten, aufgrund der nahezu permanenten Krise bis in die kleinste Fußnote hinein interessanten Briefwechsel zwischen Unseld und Bernhard, der erst vor wenigen Jahren erschienen ist, einem der überhaupt interessantesten Briefwechsel, die aktuell zu kaufen sind (für inzwischen nur noch 18 Euro als broschierte Ausgabe).
Gegen Bernhards Betrugsvorwürfe rechnet der nur hier stoisch duldsame Verleger immer und immer wieder Darlehensschulden Bernhards, von Insel oder Suhrkamp versicherte Garantiehonorare, Theater-Tantiemen, Preisgelder, Guthaben. Er versucht, zu besänftigen, wenn Mitarbeiter des Verlages desavouiert werden, wenn Bernhard mal wieder aufgrund eines Ärgernisses den Verkauf seiner Bücher in Österreich untersagen will, wenn ihm Kritiken, Platzierungen im Gesamtprogramm, Lesungen oder Inszenierungen seiner Stücke missfallen.
„Lieber Herr Doktor Unseld, am Montag habe ich in den Münchner Kammerspielen die hundsgemeine Hinschlachtung eines meiner Theaterstücke erleben müssen, gerade den brutalen stumpfsinnigen Mord an jener Arbeit, die sich ‚Der Ignorant und der Wahnsinnige‘ betitelt und zu den schwierigsten Stücken auf dem Theater überhaupt zu zählen ist; und gerade dieses Kunststück hat der Verlag völlig bedenkenlos einer Bühne zur Aufführung gegeben, die niemals die Voraussetzungen hat, eines meiner Stücke auch nur akzeptabel herauszubringen, einem Dramaturgenteam, das aus Idioten, tatsächlich aus ordinären Provinzidioten besteht und einer Schauspielergarnitur, die in Sankt Pölten oder in der Kurstadt Baden bei Wien sich austoben kann an einer Léharoperette, nicht aber und niemals auf eine meiner Arbeiten losgelassen werden hätte dürfen.“ (Ohlsdorf, 12.4.1973)
Dieser Briefwechsel, den man nach Juristenart in der Form „Bernhard./.Unseld“ notieren möchte, ist Zeugnis eines ständigen Kampfes zweier grandios egomaner Alphatiere. „Sie haben in meinen Rolls-Royce nur einen Liter Normalbenzin gegossen und ihn stehen lassen“, beschwert sich Bernhard im November 1985 über die seiner Meinung nach zu geringen Werbemaßnahmen des Suhrkampverlages, „während Sie in den Opel Kadett Ihres Freundes vier bis fünf Zusatztanks haben einbauen und mit Superbenzin haben anfüllen lassen.“ (Mit dem Opel Kadett ist Martin Walsers als Spitzentitel angekündigter Roman „Brandung“ gemeint). „Bernhard./.Unseld“ und kein Ende: Es ist ein Kampf, den Alexander Schimmelbusch 25 Jahre nach Bernhards Tod auf treffend erfinderische Weise fortführt, im fulminant emphatischen Stil.
Im Roman „Die Murau Identität“ hat Thomas Bernhard seinen Tod fingiert, um die Menschen, nicht aber die komplette Welt hinter sich zu lassen. Er lebt, auf Mallorca, in der alten Heimat sozusagen. Nur Siegfried Unseld und Bernhards Sohn sind eingeweiht. Doch das nunmehr ein Vierteljahrhundert dauernde Spiel soll anlässlich der Veröffentlichung eines neuen, gleichzeitig in 50 Sprachen erscheinenden Bernhard-Romans beendet werden. – Was hier vorgelegt wird ist also eine großartige Spekulation. „Ich hatte keine Wahl in diesem Fall“, antwortet Alexander Schimmelbusch gegenüber LesenMitLinks. „Das Problem beim Schreiben über Bernhard ist, dass man zu viel weiß über ihn. Es ist in etwa wie mit der RAF: Die Legende ist dermaßen gut dokumentiert, alle Anekdoten sind bekannt, sodass man, wenn man bei der Realität bleibt, nichts wirklich Neues erzählen kann. Das wirkt dann wie ein Film, dessen Drehbuch der Zuschauer auswendig kennt. So musste ich einen neuen Raum aufmachen, und das war eben die Zeit nach Bernhards fingiertem Tod, nach seiner Genesung. Mein Buch wurde also ein nonfiction novel, aber basierend auf erfundenen Fakten. Umso wichtiger war die Akkuratesse des Hintergrundes. Um Lügen als Wahrheit erscheinen zu lassen, müssen sie erstens wahrscheinlich und zweitens ebenso unauffällig wie nahtlos in einen wahrheitsgetreuen Kontext eingebettet sein.“
Er hat also recherchiert und quasi als Antithese seiner selbst einen oberflächlichen, in literarischen Dingen kaum bewanderten Style-Journalist erdacht, der sich an seiner statt auf Bernhards mallorquinische Spuren begibt. Dieser Journalist heißt: ebenfalls Alexander Schimmelbusch und damit genau so wie die Figur im Debüt „Blut im Wasser“. – „Mir wurde ein Kuvert zugesandt, in dem sich die versiegelten Reiseberichte von Bernhards Verleger befanden“, lässt Alexander Schimmelbusch seinen gleichnamigen Helden im fingierten Promo-Interview des Metrolit-Verlages sagen. „Schnell war klar, dass er auf Mallorca lebte, unter dem Alias Franz-Josef Murau, so hieß der Protagonist in seinem Roman ‚Auslöschung‘. Ich las von einer Hacienda nahe Deià, von Ehefrau und Kind. Dann begann meine Recherche. – Zuerst machte ich Bernhards Sohn Esteban ausfindig, der mit Anfang 20 in New York einen Hedgefonds leitet, Wolfsegg Capital. Esteban ist seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten, nur sieht er viel besser aus, wenn auch auf eher unseriöse Weise, als habe man Bernhard mit Julio Iglesias gekreuzt, oder mit Zorro sogar.“
Auf knappen 200 Seiten findet nun auf zwei verschiedenen Ebenen ein literarisches und detektivisches Abenteuer statt. Der Journalist Alexander Schimmelbusch gelangt zufällig an versiegelte Reiseberichte Unselds, in denen der 2002 verstorbene Verleger notiert, wie er seit 1989 Bernhards Versteckspiel deckte, ihn regelmäßig auf der Insel besuchte, Suiten cash bezahlte und sein letztes Romanprojekt betreute: „Aber wenn ich allein an die Kosten der experimentellen Antikörperbehandlung zurückdachte, mit der ihn die New Yorker Ärzte gerettet hatten und für die ich privat aufgekommen war – ich hätte sie ja kaum über den Verlag abrechnen können, oder der Krankenkasse des Toten in Rechnung stellen –, spürte ich Unbehagen in mir aufsteigen.“ Das geht nur mit gut gefülltem Privat-Portemonnaie und Leidenschaft fürs Literarische. „Lieber Thomas Bernhard, auch ein Verleger ist ein Mensch. Auch er braucht seine Streicheleinheiten. Wenn er nur geprügelt, wie ein Hund geprügelt wird, dann kann er ja nur hündisch werden“, hatte Unseld am 15. Juli 1975 an seinen undankbaren Autor geschrieben – und ihm sogleich wieder verziehen, sogar eine weitere Darlehensauszahlung bestätigt.
Unselds Ton, er wird von Schimmelbusch auf ununterscheidbare Weise getroffen. Dieser Ton gibt dem Roman eine hochliterarische Identität. Aufgrund der fingierten Reiseberichte ist Schimmelbusch vom Weiterleben Bernhards überzeugt und macht sich auf dem Weg; im Magazinauftrag und selbstverständlich gegen Spesen. – Dieser ebenso wie Bernhard stets im Minus lebende Schreiber will sich mit einem großen Interview aus der Misere arbeiten. „Ich hatte zwei Romane veröffentlicht, dann aber das Interesse daran verloren, über mich selbst nachzudenken.“ Die Figur Schimmelbusch sich vom Ich entfernt, wie eine Gegenfigur des beständig um sich kreisenden Thomas Bernhard. „Harmonie empfand ich in meiner Ehe zuletzt nur, wenn meine Frau sich vor mich hinkniete, um hingebungsvoll meinen Schwanz zu blasen, wenn ich auf einmal keine Kritik mehr hörte, sondern die weichen Lippen meiner Ehefrau auf meinem Alter Ego spürte.“
Der Roman wechselt zwischen den Erlebnissen des Journalisten und den mit Schreibmaschine getippten Reiseerinnerungen Unselds, lässt Schimmelbusch mit einer amerikanischen Vollblutreporterin zusammentreffen, die ihre Reize vermutlich nicht aus sexuell wahrer Anziehung spielen lässt, sondern ihr ganz eigenes Interesse an der Story hat. Damit nicht genug: Mit einer Science-Fiction-Wendung auf den letzten Seiten bemerkt der oberflächliche Yuppie-Reporter, dass hinter dem riesigen Bernhard-Coup eine noch gewaltigere, die komplette Geisteswelt verändernde Erfindung lauert. Diese würde zum Ende der Literatur, zum Ende eigentlich aller bislang gelangter Künste führen – und ausgerechnet der so oft am Rand stehende Thomas Bernhard spielt hier eine unheimliche Schlüsselrolle.
Dass Alexander Schimmelbusch für seinen Roman akribisch recherchiert, sich den Sprachduktus’ Unselds angeeignet hat hebt „Die Murau Identität“ weit über den Stand einer kalkulierten Provokation heraus, wenn es denn eine Provokation gewesen sein sollte. – Der Skandal blieb jedenfalls aus, Suhrkamp schwieg zu allem dezent (und ist derzeit mit anderen Personen beschäftigt ist, deren Nachname mit einem „B“ anfängt). Den „Ton Bernhard’scher Übertreibungen“ identifizierte der österreichische Kurier. „Ein äußerst unterhaltsames Buch, das in seiner gemeingefährlichen Smartness an den jungen Christian Kracht erinnert“, urteilte Thomas Andre auf spiegel.de. „Ich hatte eine relativ typische Bernhard-Phase als Student, so mit 19, da habe ich dann das Gesamtwerk gelesen, mit großer Begeisterung, und auch eine Flut aus sekundären Schriften“, schreibt Alexander Schimmelbusch per E-Mail. „Manches davon funktioniert heute für mich nicht mehr, aufgrund des Alte Meister-Effekts wahrscheinlich, der besagt, dass jedes Kunstwerk, wenn man es zu eindringlich betrachtet, zwangsläufig als lächerlich erscheinen muss. Aber zum Beispiel Beton funktioniert immer, auch Holzfällen, das ist so gut geschrieben, und so lustig, und so präzise im Definieren des Erzählers durch seine Wahrnehmung anderer, dass es vielleicht einmal als sein bestes Buch gelten wird, obwohl es, was die Literaturwissenschaft betrifft, natürlich den großen Macht-Spaß-zu-lesen-Makel hat.“
Nun ist „Die Murau Identität“ vordergründig ein Bernhard-Roman, auf dem Cover ist der Schriftsteller abgebildet, ihn kennt die Leserschaft unter Garantie. Bernhard wird verehrt. Oder mit den Worten des Romans: „Dass dieses Urteil einmal anders ausgefallen war, dass Bernhard als Nestbeschmutzer beschimpft worden war, als Ausländer, Sodomie und Schmarotzer, dass alte Frauen auf der Straße mit Regenschirmen auf ihn eingeprügelt hatten, dass wildfremde Wiener Bürger ihn im Kaffeehaus angeschrien hatten, dass er vergast gehöre, vergast, wiederholte der Minister, um seine Argumentation Nachdruck zu verleihen, aber dies sei eben Tradition in Österreich, wo die späteren Heiligen zu ihren Lebzeiten schon immer mit Hass verfolgt worden seine, eine ewige Regel, die das Leben ihm selbst schon in früher Kindheit zu verstehen gegeben habe.“
Aber wenn man „Die Murau Identität“ zusammen mit Unselds „Chronik“ oder eben, zum Einstieg, mit dem Briefband zusammen liest ist klar, wer der wahre Held des Buches sein muss. Diesem „freilich gänzlich fiktionalen Bernhard-Verleger“ (Schimmelbusch) wurde hier ein Denkmal gesetzt. „Seine wahre Brillanz liegt in seinen Schriften, vor allem in seiner Chronik. Wenn man an die zwanzigtausend Seiten denkt, die sie wohl umfasst, dann ist man sprachlos“, schreibt Schimmelbusch auf Nachfragen. „Es handelt sich dabei um ein Knausgaardeskes Meisterwerk, um das interessanteste und größenwahnsinnigste autobiografische Projekt der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Ein Verleger, dessen Verständnis seiner Position beinhaltete, sich seinen Autoren unterzuordnen, zumindest zum Schein, macht sie in seinem lebenslangen autobiografischen Projekt, das wiederum zum Schein seinen Verlag zum Gegenstand hat, dann zu Figuren, die alle um seine eigene Größe kreisen. Wenn diese Chronik irgendwann komplett vorliegt, wird sie sich sicher als eines der prägenden literarischen Werke der klassischen Suhrkamp-Ära erweisen. Ein autofiktionales Epochenbuch, ebenso fulminant wie furios“, sagt Alexander Schimmelbusch.
Nach „Chronik 1970“ (2010) erscheint Teil Zwei in diesem Herbst, zum 10. November 2011: „Chronik 1971“ – die ersten beiden Jahre und 1120 Seiten sind damit publiziert (inklusive der im ersten Teil enthaltenen Chroniken „Buchmesse 1967“, „Buchmesse 1968“ und der „Chronik eines Konflikts“ – worüber zur rechten Zeit hier auf LesenMitLinks geschrieben wird.) Bis jetzt widerspricht nicht eine einzige Zeile Unselds dem Urteil von Alexander Schimmelbusch. Für literarisch interessierte Menschen im direkten Vergleich zu Knausgaard vermutlich sogar die packendere Lektüre, die am schönsten vorbereitet wird mit „Die Murau Identität“ und Thomas Bernhard als eine der besten Figuren des bisherigen Bücherjahres.
Alexander Schimmelbusch: „Die Murau Identität“, Metrolit, 208 Seiten, 18 Euro / Thomas Bernhard, Siegfried Unseld: „Der Briefwechsel“, herausgegeben von Raimund Fellinger, Martin Huber, Julia Kletterer, Suhrkamp, 888 Seiten, 18 Euro (broschiert) / Autorenfoto A. Schimmelbusch: Kay Itting
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