Feiern auf Befehl, studieren nach Maß und Klopapier nach dem Sex: In Sarah Strickers großartigem Debütroman „Fünf Kopeken“ kämpft eine junge Frau gegen das Spießige um sie herum und akzeptiert das Hässliche, das sie selber ist.
Das erste Date. Eine 14-Jährige sitzt im grünen Ford Taunus neben Künstler Rudi und lässt sich von einer langweiligen Fete nach Hause kutschieren. Dabei hatte ihr der Vater noch eingebleut: „Und‘s wird Spaß gehabt! Dass das klar ist!“ War aber kein bisschen spaßig, sondern grauenhaft: „Die Musik war so laut, dass der Bass gegen ihre Brust hämmerte, während Tony Marshall auf die Pauke haute und Juliane Werding, die denkt, dass sie denkt, sie könne mit ihrem Kleinmädchenfeminismus irgendjemandem hinterm Herd locken, aus dem Lautsprecher nölte.“
Man könnte auch sagen, dass gleichgültig ist, was auf einer Party spielt, wenn man eher dem Wiener Nestroy zustimmt: „Der Mensch ist guat, nur die Leut san a Gsindl.“ Doch weil nicht alle die Leute für Gesindel halten, öffnet Rudi die Tür seines grünen Ford Taunus und bitter die draußen Frierende ins Innere, besagte 14-Jährige, die spätere Mutter von Anna, die auf über 500 Seiten ihre verworrene, von „Fünf Kopeken“ beeinflusste Familiengeschichte nacherzählt. In der Zeit des Erzählens liegt die Mutter längst im Sterben: „Sie war unheimlich stolz, es am Ende doch noch zu einer vorzeigbaren Krankheit gebracht zu haben, die ihr keiner wegreden konnte. Manchmal weigerte sie sich sogar, ihre Medikamente zu nehmen, obwohl die Schmerzen kaum erträglich gewesen sein müssen.“
Jahrzehntelang hat sie geschwiegen. Doch jetzt redet sie und hört gar nicht mehr auf zu reden: Davon, wie sie sich damit angefreundet hat, hässlich zu sein und von Annas Vater, der ihr nach dem Sex immer Klopapier aus dem Badezimmer mitgebracht hat und von dem russischen Kellner aus einem portugiesischen Restaurant, bei dem nicht nur die Sache mit dem Sex ganz anders war: „Meine Mutter zieht die Beine nach oben, bleibt einen Moment so liegen, wie ein dicker Käfer auf dem Rücken, bis ihr einfällt, dass sie gar nicht auf das Klopapier warten muss.“ – Und von ihrem ersten Flirt mit Rudi, im Ford Taunus, als 14-Jährige, auf dem Heimweg von dieser verdammten Fete.
„Und dann? Machte er meiner Mutter ein Kompliment. Oder sowas Ähnliches. Neid, Hass, das Hässliche. Ab-stoßende, das sei es, was den Menschen an-zöge, in der Kunst genauso wie im wirklichen Leben, ,wenn das überhaupt ein Unterschied ist.‘ Schönheit hingegen sei einfach nur schrecklich langweilig. Er drehte sich nach rechts, legte den Kopf zur Seite. Über seine Schulter blendeten die Scheinwerfer eines vorbeifahrenden Autos, sodass meine Mutter sein Gesicht nicht sehen konnte. Blind starrte sie ins Licht. Dann sagte er: ,Vielleicht fotografier ich ja mal dich.“
Bamm! – Liebesbeweise können bisweilen nach hinten losgehen und dieser ist eher wie ein kapitaler Rückstoß. Annas Mutter gerät ins Taumeln und mit ihr das Weltbild. Nicht nur, weil sie verknallt und zurückgeliebt wird, sondern weil in den kommenden Wochen alle Annahmen über ein gelungenes Leben auf links gedreht werden. So gefällt es Rudi, Worte in ihre Silben zu zerlegen, „um den ,Mann auf der Straße‘ an ihre ur-sprüng-liche Bedeutung zu er-innern“, was zunächst intellektuell-sexy daherkommt.
Doch muss Annas Mutter erfahren, dass weder Intellekt noch Schönheit zwingend anziehend sind, jedenfalls nicht auf Dauer. Aber was ist schon Dauer? Um sich tiefer auf einen Menschen einzulassen fehlt dieser Frau schlichtweg die Zeit, wird sie doch von von der eigenen Mutter, Annas Großmutter, bis zum Schluss von A nach B gescheucht, mit schönen Weisheiten der Art:„Kein Wunder, wenn du den ganzen Tag im Bett liegst! In der Brigitte schreiben sie, gerade wenn man unter erhöhtem Stress steht, ist Bewegung das A und O!“, während der Leitspruch ihres Vaters, einem Boutiquenbesitzer, das ständig gemurmelte „Labor omnia vincit“ („Arbeit besiegt alles) ist. So vergehen die 50er der Großeltern, die 70er und 80er von Annas Mutter, die konsequent nicht beim Namen genannt wird, als sei sie das Mütterliche an sich, als müsste man sie eigentlich, wie der HERR in einigen Bibelausgaben in Großbuchstaben schreiben, also nicht Mama oder Mutter, sondern MUTTER! Mit Ausrufezeichen.
Erst mit Anna kommt Empfindsamkeit in ihr Leben. Anna ist Journalistin, würde gern Romane schreiben, soll aber, wenn es nach ihrer Familie geht, erstmal den renommierten Kisch-Preis einheimsen. Dann würde man weitersehen. Doch Anna lässt sich nicht hetzen, sondern erzählt, als baute sie einen Wall gegen die Hektik ihrer Familie auf, lässt sich hinreissen zu sentimentalen Augenblicken und einer familienfremden Poesie, wie in dem Moment, als ihre Mutter besagten Russen besucht: „Meine Mutter schiebt den Kopf in die Wohnung. Als würde sie das Gezwitscher einer vom Aussterben bedrohten Vogelart studieren, lauscht sie den Geräuschen, die zur ihr nach draußen dringen, dem Gluckern der Rohre, dem Rauschen des Wassers, jetzt aber wohl aus dem Hahn.“
Da sind die Großeltern mit ihrer Boutique und dem stetig wachsenden Versandhaus ins Berlin der Nachwendezeit gezogen, selbstverständlich auch dies in Eile, gehetzt, wie auf der Flucht, sodass es beinahe eine Tote zu beklagen gibt, während sowieso viel geklagt wird in dieser Zeit, besonders vom Großvater, der die Alt-Sozialisten scheel beäugt: „Man kann ihnen ja nicht mal böse sen. Haben hinter ihrer Mauer halt nicht gelernt, dass Stil nix ist was es nur am Eis gibt.“
Die großen Familiengeschichten der deutschen Gegenwartsliteratur wirken oft wie eine Umschreibung von „Forrest Gump“. Wenn die Berliner Mauer fällt ist der jeweilige Held zufällig vor Ort. Das alles liest sich dann wie einer dieser romantischen Film-Filme, in denen sich deutsche Trümmerfrauen in ritterliche G.I.s verknallen oder der Sohn des CDU-Stadtrats mit der Anti-AKW-Aktivistin fraternisiert. Sarah Stricker erzählt ihre nahezu hundert Jahre umspannende Geschichte allerdings ohne historischen Pomp, sondern sehr nah am Kleinkosmos „Familie“ hängend – mit melancholischer Komik, sprachlicher Finesse und aufopfernder Liebe zu ihren Figuren. Dass dieser Roman nicht einmal auf der Longlist des Deutschen Buchpreises stand ist schlichtweg beklagenswert.
Sarah Stricker: „Fünf Kopeken“, Eichborn, 508 Seiten, 19,99 Euro