Ob Goethe, Dickens oder Proust – muss ein Roman schon Staub angesetzt haben, um als „Klassiker“ zu gelten? Nein! In der Sommerreihe des Deutschlandfunk stellt die Redaktion Meilensteine der Literatur nach 1945 vor. Heute mit Rainald Goetz’ Debütroman „Irre“
Dieser Roman ist untrennbar verbunden mit einem der folgenreichsten Happenings bundesrepublikanischer Nachkriegsliteratur, mit dem Auftritt seines Autors Rainald Goetz beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 1983. Der blondgefärbte Punk betritt die Bühne im österreichischen Klagenfurt und sofort ist ein Rumoren im Zuschauerraum. Die Ordner bitten um Ruhe, der Autor wolle lesen. Und dann liest der Autor, eröffnet seine hochliterarische Hasstirade „Subito“. Es geht bei Goetz’ erstem großen Auftritt um „Blödel“, um „Riesenscheiße“, um „blääde Sensibilität“, um Künstlerhinrichtungen und: um Popkultur.
„Ich brauche keinen Frieden, weil ich habe den Krieg in mir. Am wenigsten brauche ich die Natur. Ich wohne doch in der Stadt, die wo eh viel schöner ist. Schaut euch lieber das Fernsehen an. Wir brauchen noch mehr Reize, noch viel mehr Werbung Tempo Autos Modehedonismen Pop und nochmal Pop. Mehr vom Blauen Bock, mehr vom Hardcoreschwachsinn der Titel Thesen Temperamente Und Akzente Sendungen. Das bringt uns allabendlich in beste Trinkerlaune. Nichts ist schlimm, nur die Dummheit und die Langeweiler müssen noch vernichtet werden. So übernehmen wir die Weltherrschaft.“
Neue Deutsche Welle, Biolek und WW2
Vor Publikum gibt es in Klagenfurt einen ersten Scheinwerferblick auf Goetz’ Debütroman „Irre“. Es ist kein Eins zu Eins-Ausschnitt, sondern eine Nebenhandlung um die Hauptfigur dieses Romans. Der idealistische Assistenzarzt und Punk Raspe versucht, eben nicht irre zu werden zwischen nervenaufreibendem Klinikalltag, psychotischen Patienten und hedonistischen Partynächten. Entlang der immer chaotischer durchdrehenden Story werden Phänomene bundesrepublikanischer Gegenwart verhandelt; Neue Deutsche Welle, Biolek, die weiterhin spürbaren Folgen von Zweitem Weltkrieg und nationalsozialistischer Diktatur. „Bin ich endlich frei? Ist endlich alles eines, meine Arbeit?“ fragt Assistenzarzt Raspe am Schluss des Buchs und paraphrasiert so den zynischen Satz „Arbeit macht frei“. Goetz verbindet an dieser Stelle den Überstunden-Ethos der 1980er Jahre mit der Vernichtungsmaschinerie in den Konzentrationslagern, wo – mit Ausnahme von Buchenwald – eben dieser Satz am Eingang angebracht war. In Klagenfurt liest sich Goetz, dem Inhalt seines Textes angemessen, mehr und mehr in Rage, bevor er zu einem folgenreichen Schnitt ansetzt.
„Ihr könnts mein Hirn haben. Ich schneide ein Loch in meinen Kopf, in die Stirne schneide ich das Loch. Mit meinem Blut soll mir mein Hirn auslaufen. Ich brauche kein Hirn nicht mehr, weil es eine solche Folter ist in meinem Kopf. Ihr folterts mich, ihr Schweine, derweil ich doch bloß eines wissen möchte, wo oben, wo unten ist und wie das Scheißleben geht. Wie geht das Scheißleben? Wenn es mir keiner sagt, dann muss ich es eben tun, das Schreien, laut werde ich schreien, bis mir die Angst vergeht. Und ich schreie nichts Künstliches daher, sondern echte Schreie, die mir blutig bluten.“
So viel Leben, so viel Erlebtes
Goetz nimmt eine Rasierklinge und schneidet sich tief in die Stirn. Blut tropft aufs Papier und symbolisiert eine der wichtigen Differenzen literarischer Kommunikation. Schneidet sich Goetz’ in die Stirn, weil auch im Text steht, „ich schneide ein Loch in meinen Kopf, in die Stirne schneide ich das Loch?“ – Oder wird andersherum die Sache klar, wird also im Text vom Blut gesprochen, weil Goetz wusste, dass er sich in die Stirn schneiden wird? Beides ist möglich, es bleibt die schillernde Differenz; und hochaktuell wird nachwievor gefragt, in welchem Austauschverhältnis Erlebtes und literarisch Dargestelltes zueinanderstehen. Diese Frage macht Goetz’ „Irre“ zum Klassiker. Für den damaligen Bachmannpreis-Juror Marcel Reich-Ranicki ist unmittelbar nach dieser furiosen Lesung jedenfalls klar:
“Selten habe ich einen Text gehört, in dem so viel Leben wäre, so viel Erlebtes, und – auf spezifische Weise des Autors – verarbeitetes Leben. Dieser Wutausbruch zeugt doch von einem … und dieser Wutausbruch ist nicht gemacht. Das glaube ich nicht. Der Wutausbruch ist authentisch und er zeugt doch von einer ungeheuren Teilnahme an all dem, was sich bei uns abspielt. Haben wir es mit einer literarischen Leistung, fragte ich, zu tun, und ich antworte: Ja!“
Rainald Goetz: „Irre“, Suhrkamp, Berlin, 330 Seiten, 10 Euro