Neujahr 2015 wurde Hartz IV zehn Jahre alt. Es ist ein trauriges Jubiläum. Zugleich stritt man im Feuilleton das halbe vergangene Jahr darüber, ob nur noch Arztsöhne und Anwaltstöchter es sich leisten können, literarisch tätig zu sein. Höchste Zeit zu fragen, ob zwischen diesen beiden Phänomenen ein Zusammenhang besteht und ob sich die deutsche Literatur vielleicht dorthin entwickelt, wo die britische Popmusik seit vielen Jahren steht. Denn die rigiden Sparmaßnahmen der einstigen Premierministerin Margaret Thatcher machten es proletarischen Britpoppern unmöglich, ihrer Kunst zu folgen. Mit dem Ergebnis, dass die britischen Top Ten bis heute von Privatschulabsolventen dominiert werden, die vom Working Class Hero nichts wissen wollen.
Wird das Prekariat auch in Deutschland endgültig an den Rand der kulturellen Wahrnehmung gedrängt? Oder ist es vielleicht genau andersherum? Solche Fragen stellen sich durch den „Social Turn“ in Literatur, Kulturwissenschaft und Kritik. Man weiß nicht genau, was man von diesem Turn halten soll. Hat es sich nach einigen anderen Turns (Acoustic Turn, Spatial Turn) am „Reck der Germanistik ausgeturnt“, wie der Frankfurter Literaturwissenschaftler Achim Geisenhanslüke spottete? Oder kommt tatsächlich Bewegung in die Wissenschaft?
Vergangene Woche, im Januar 2015, sollte eine Münsteraner Tagung Klarheit verschaffen. „Im Kern geht es darum, die gesellschaftliche Verantwortung der Literaturwissenschaft wieder zu erneuern“, sagt Haimo Stiemer, einer der Organisatoren des Kongresses. Klingt gut, doch hat die Literaturwissenschaft diese Verantwortung wirklich? Wie sähe sie aus?
Unstrittig ist, dass die neuerdings „Humanities“ getauften Philologien ein simples, aber großes Problem haben: Sie müssen originell sein. Das zeitigt bizarre Effekte, die der Berliner Akzelerationist Armen Avanessian gerade in seiner vielbeachteten Studie „Überschrift“ aufs Korn genommen hat. Einerseits variieren die Geisteswissenschaften das immer gleiche Wissen anhand ständig neuer Objekte: „Auch bei dem von mir ausgegrabenen Schriftsteller Soundso spielt die Schreibmaschine die Rolle eines Mediums, genau wie bei Friedrich Kittler, aber noch 23 Jahre früher!“ Andererseits wird der Kanon permanent mit neuer Theorie durchkämmt. „Medium der innovativen Forschung sind: schick zusammengetrommelte Tagungen, wohlkuratierte Sammelbände, interessante Drittmittelfortsetzungsanträge und vieles Schöne mehr.“
Womit wir beim Social Turn wären, der seit ein paar Jahren zum Karrieresprung in dieser Welt der Theorien ansetzt. Alles fing damit an, dass die Berliner Privatdozentin Elke Brüns vor knapp sieben Jahren den Sammelband „Ökonomien der Armut. Soziale Verhältnisse in der Literatur“ herausgab und diesen mit einem „Plädoyer für einen Social Turn in der Literaturwissenschaft“ eröffnete. Das passte in den Zeitgeist: Der SPD-Vorsitzende Kurt Beck hatte 2006 von den „neuen Unterschichten“ gesprochen. Ein Jahr zuvor hatte der verarmte Ex-Werbetexter „Stefan Weigl mit Stripped. Ein Leben in Kontoauszügen“ den Hörspielpreis der Kriegsblinden gewonnen, und dann gab es noch Hartz IV.
Elke Brüns fiel auf, dass ausgerechnet eine Literaturgeschichte der Armut fehlt, dass Armut, wenn überhaupt, als zu überwindender Mangel verstanden wurde. Aus der Debatte über die Armut wurde eine über das Soziale an sich. An etlichen Stellen wird mittlerweile eine neue, irgendwie sozial engagierte Literatur eingefordert. Befeuert wird dieses Postulat durch die Behauptung, dass die deutsche Gegenwartsliteratur überwiegend von den Kindern bürgerlicher und großbürgerlicher Schichten verfasst sei (die sogenannte Florian-Kessler-These); dass sie dann von ebenfalls „bürgerlichen“ Verlegern herausgebracht und von „bürgerlichen“ Kritikern rezensiert werde.
Seitdem wurden etliche Romane auf beinahe spießige Parameter abgeklopft. Da musste sich der Leipziger Buchpreisträger Saša Stanišić von Maxim Biller maßregeln lassen, weil sein neuer Roman „Vor dem Fest“ nicht von „Leuten wie sich selbst“ erzählt, sondern sich vom jugoslawischen Bürgerkrieg ab- und zur fremden Uckermarck hinwendet.
Als vor wenigen Wochen der Lesewettbewerb Open Mike in Berlin ausgetragen wurde, gab es Kritik aus verschiedenen Feuilletonlagern über die beklagenswert glatt wirkenden, auf den etablierten Kulturbetrieb hin dressierten Nachwuchsautoren, die artig die Hand geben, sich verbeugen und Provokation als Kalkül einsetzen.
In seinem Sammelband „Diskurspogo“ fragte der Kritiker Enno Stahl dagegen nach der „Literatur in Zeiten der Umverteilung“ und wie es passieren konnte, dass Soziales oft mit Romantik gleichgesetzt werde. Judith Hermann etwa ergründe Armut in ihren Geschichten nicht, sondern setze sie lediglich ein, „um ein soziales Klima zu erzeugen, dessen ihre Erzählungen, ihre Gestalten, zwingend bedürfen, um in einen nostalgischen Schwebezustand zu geraten“. Auf der Tagung in Münster forderte Stahl erneut mehr Erzählungen aus der Arbeitswelt und vermutete, dass ebendiese Geschichten von den Verlagen unterdrückt werden.
Aber stimmt das? Allein der Blick auf die Longlist des diesjährigen Buchpreises „zeigt einiges an sozialer Relevanz“, meinte Elke Brüns und nannte unter anderem die Romane „3000 Euro“ von Thomas Melle und „Unternehmer“ von Matthias Nawrat. Man könnte die Debüts „Tigermilch“ von Stefanie de Velasco aus dem Jahr 2013 und Verena Güntners „Es“ bringen anfügen, die eindringlich vom Leben in der Unterschicht erzählen. Dazu kommen großartige Erzähler wie Frédéric Valin, dessen Geschichtenband Randgruppenmitglied Milieus wie die Schlaganfall-Reha, die Prekariats-WG und das Leben von Möchtegernpunks beobachtet.
Es gibt Finn-Ole Heinrich, der seit Jahren über Ausländer, Nazis, Behinderte, über zerstörte Familien und nicht ganz so heile Beziehungen schreibt. Im Frühjahr 2015 wird das Debüt von Dimitrij Wall bei Eichborn erscheinen, der ebenso wie die meisten Autoren nicht aus einem Ärztehaushalt kommt und der sich literarisch nach oben boxen musste, also dorthin, wo die angeblichen Stars des Literaturbetriebs sitzen und sich mit Denis-Diderot-Bänden gegenseitig kühle Luft zufächeln.
Dass die Armut in der Literaturwissenschaft bis vor sieben Jahren, seit Elke Brüns’ Band „Ökonomien der Armut“, nicht angemessen behandelt worden ist, mag stimmen. Alle weiteren Beobachtungen sind falsch. Der Kulturjournalist Florian Kessler, Absolvent der Hildesheimer Schreibschule, hat seine Erkenntnisse aus dem persönlichen Umfeld gewonnen, sich allein den Hintergrund der Diplomabgänger angeschaut. Inzwischen hat Hildesheim auf das Bachelor-Master-System umgestellt.
Guido Graf, ebendort wissenschaftlicher Angestellter für Literarisches Schreiben und Literaturwissenschaft, kann für die heutigen Studierenden nicht bestätigen, dass diese komplett aus dem stammen, was man „Bildungsbürgertum“ nennen kann. Eine interne Absolventenbefragung hat seine Beobachtung verifiziert. Damit ist freilich nicht für jeden Winkel die Durchlässigkeit des Betriebs belegt. Möglich ist, dass Literatur und Unterschicht seltener miteinander in Berührung kommen, weil dort, wo Hartz IV bezogen wird, andere Artikulationswege gelten. Das Schreiben von Romanen war seit Anbeginn auch dort ein bürgerliches Projekt, wo die Gegenstände dieser Romane es nicht (mehr) waren.
Noch ein frommer Wunsch für 2015: Mehr Literaturkritik wagen, weniger B-Noten-Vergabe an jene, die seit Jahr und Tag über das Soziale schreiben, über Leben und Tod, Elend, Reichtum, das Hohe und das Niedrige. Hartz IV hat bislang keine Romane verhindert. Der Markt ist voll von ihnen, man muss sie nur entdecken. Und den „Humanities“ wünscht man Mut zum Kanon und weniger Turnübungen am germanistischen Reck. Wer Goethe gegen das Prekariat ausspielt, hat nichts kapiert.