„Andreas Stichmann hat nicht einfach ein Buch geschrieben – er hat eine Rakete gebaut!“, schreibt Schriftstellerkollege Thomas Pletzinger euphorisiert auf den funkelnden Erzählband „Jackie in Silber“.
„Die Hoppmann-Brüder haben beide Bomberjacken: Außen blau und innen orange. Der eine sieht klein aus in seiner Jacke, denn er ist klein, der andere groß, denn er ist groß.“ Lakonisch eröffnet Andreas Stichmann die sechs Seiten kurze Erzählung „Hey Hoppmanns“, in der zwei asoziale Jungs irgendwie ins Erwachsenenalter geführt werden sollen, dann aber doch scheitern, scheitern, scheitern. Dabei hat sich die nette Sozialarbeiterin so viel Mühe gegeben, mit Seifenkistenrennen, Radiowerkstatt, einfühlsamen Gesprächen.
Doch die beiden Hoppmann-Brüder prügeln sich weiter. Rolltreppe abwärts im Jahr 2008. Der Große leistet irgendwann Sozialstunden ab. Der Kleine, Schüchterne, fühlt sich kurz erleuchtet, von einer silbern gekleideten Klassenkameradin, die „Jackie“ heißt, wie das verniedlichte Gegenstück zur derben (Bomber-)Jacke. Doch zum Schluss sind, Hoffnungen hin oder her, alle am Ende. Die „silberne Jackie“ wurde in eine bunt geschmückte Psychiatrie eingewiesen. Hoppmanns einfühlsame Sozialarbeiterin ist auf eine halbe Stelle zurückgestuft worden und redet jede Menge Unsinn. Der Kleine wird zum Dieb und flux hat Andreas Stichmann gezeigt, wie Menschen am modernen Leben scheitern können.
„Jackie in Silber“, das ist der kurze Lichtblick am Ende des Tunnels, bevor ein ICE entgegenkommt. Es ist atemraubend, wie präzise, klug und knapp der 1983 in Bonn geborene Autor schreibt, wie lässig, schön und floskellos. Elf kurze Geschichten bedeuten in seinem Debüt, dass elfmal der kleine Kampf um Anerkennung („Alleinstehende Herren“), um großgewachsene Holländerinnen („Malalea“), um Beim-Gruppensex-nicht-mitmachen-müssen („Die Blumen“), um Würde und Trost („Frances stirbt“) ausgefochten wird.
Da gibt es den resignierten Trödelhändler, der von tückischen „Unglücksmassagen“ eingelullt wurde, der irgendwann überfallen, geknebelt, über Nacht in seinem eigenen Lager festgehalten wird. Die Geldkassette wird gestohlen. Yakuzafilme beginnen so und motivieren den späteren Rachefeldzug. In Horrorgeschichten würde jetzt das große Grausen starten, mit Splatter, Schock und Suspense. In Andreas Stichmanns „Goldbarrenmann“ bemerkt der Befreite nur: „Das war ganz erstaunlich! Kurz bevor es hell wurde, hat irgendwo ein Vogel gerufen! Es gibt da so eine Zeit, in der kaum Autos fahren, man hört sich das ja sonst nie so genau an. Der hat mich fast verrückt gemacht, dieser Vogel.“
In dieser halbseidenen Stunde, zwischen Tag und Nacht, zwischen Autorasen und Vogelzwitschern, spielen die Geschichten des Buchs. Da gibt es ein Zwitschern, eigentlich schön, doch irgendwie nervt es. Da gibt es den morgendlichen Silberstreif am Horizont, doch bis zum Rush-Hour-Verkehr ist Zeit. Der frühe Vogel, der bei Shakespeare für Romeo und Julia zwitscherte, Nachtigall oder…, der besingt hier einen alten Mann.
Sein Sohn wird später eine Vision entwerfen, um Papa aus der Lethargie zu reißen. Diese Vision wird, wie viele Visionen unserer Tage, vom Privatfernsehen inspiriert. Dort gibt es eine Gewinnspielsendung, in der ein Radfahrer durch Deutschlands Städte kurvt. Wer ihn fangen und dazu den Sendernamen rufen kann, der gewinnt einen Goldbarren, der wird reich, der wird Programm, der kann aus dem Alltags- in die Blitzlichtwelt wechseln, um als Millionengewinner allen zu beweisen: „Du kannst es schaffen, wenn du willst.“ – Plötzlich steht dieser goldgelackte Mann, als Inkarnation allen Glücks, im Dämmerlicht an einer Laterne, also in dem Licht, das den frühen Vogel zum zwitschern brachte. Und der Junge schweigt. Er ruft seinen Vater an, damit der seinem Glück nacheilen kann. „Wir müssen nur wollen.“ Diese Szene wird zynisch enden. Aber das Gefühl, später, wird für keinen Leser zynisch, sondern melancholisch eingefärbt sein. Das ist Literatur, denn sie ist immer doppelt, immer Null und Eins, Licht und Schatten, Privat-TV und alte Mär.
Andreas Stichmann studiert seit 2005 am Deutschen Literaturinstitiut in Leipzig. 2006 nahm er an der Endrunde des Berliner „Open Mike“-Wettbewerbs teil, bei dem Debütanten ihre Texte vor großem Publikum, unter den Augen kritischer Feuilletonisten, unkritischen Fans und neugierigen Literaturfans lesen. Das Deutschlandradio urteilte damals: „Sein moderner wie reifer und vor allem witziger Text gehörte unumstritten zu den absoluten Publikumslieblingen.“
Wer sich umschauen mag: Auf der sehr schönen „poetenladen“-Homepage schreibt Andreas Stichmann regelmäßig Geschichten. Die Seite ist ein Surftipp und einer von vielen Beweisen, dass es im Internet täglich Entdeckungen gibt, euphorische Leute, die renommierten Verlagen ein Schnippchen schlagen, selbst die besten Trüffelschweine sind, dass kein Kindle-Lesegerät oder Sony-Reader zerstören kann, was Literatur ausmacht: Den Text – und im Fall „Jackie in Silber“ auch den Schimmer, den Zauber, der manchmal in dieser Texten liegt.
(Andreas Stichmann: „Jackie in Silber“, Mairisch, 144 Seiten, 14,90 Euro)