Nach Blogromanen, Flatrate-Romanzen und SMS-Büchern kommt nun die „Twitterature“ in Deutschland an.
„Schütteln, um etwas anderes zu hören, funktioniert nicht nur beim ipodTouch, sondern auch bei langweiligen Gesprächen mit Menschen.“ Solche Lebensweisheiten verbreitet der Schriftsteller Jan-Uwe Fitz auf Twitter unter den Namen @vergraemer. Die schlimmsten Dinge gehen diesem ewig schlecht gelaunten Vergraemer durch den Kopf und von da gleich ins Netz. „Ob mir beim Bahnfahren schlecht wird, hängt nicht nur von der Fahrtrichtung ab, sondern auch davon, wer mir gegenüber sitzt.“ So ein Charakter bekommt auf Partys natürlich auch niemals eine Frau ab. „Aber ich habe immer dafür gesorgt, dass es den anderen auch nicht gelingt.“ schreibt er. „Der Taubenvergrämer ist eine Kunstfigur, die ich 2006 für ein Blogprojekt erschaffen habe“, sagt Jan-Uwe Fitz. „Nächstes Jahr im Mai erscheint sein Leben als Buch. Es handelt sich um einen Kammerjäger, der auf Tauben spezialisiert ist, allerdings als moderner Don Quixote noch keine Taube vergrämt hat. Für Twitter habe ich den verkürzten Namen vergraemer benutzt. Auf Live-Lesungen taucht der Taubenvergrämer seit 2009 auf.“
Sein E-Book „Vergraemungen“ ist eine Sammlung seiner besten Tweets und lässt sich als eine Vorstufe zum größer angelegten Roman lesen. Gleichzeitig steht es in einer langen Medientradition, denn die Literatur nutzte schon immer aktuelle Kommunikationsformen. Was war der Briefroman „Die Leiden des jungen Werther“ von Goethe anderes als eine Kompilation damals hochmoderner Postnachrichten? Bram Stokers „Dracula“ wird auch deshalb gefasst, weil dessen Jäger ihre Berichte auf Schreibmaschinen vervielfältigen können. Sie bekommen einen Informationsvorsprung dank Kohlepapier. Es gibt Telefonsexnovellen („Vox“ von Nicholson Baker), Emailromanzen („Gut gegen Nordwind“ von Daniel Glattauer), frühe Blogliteratur, zum Beispiel von Rainald Goetz („Abfall für alle“), Handyliteratur aus Japan und nun, als neuen Trend eben „Twitteratur“ – eine Verbindung aus „Twitter“ und „Literatur“.
140 Zeichen können durchaus große Kleinkunst ergeben, nicht nur bei Jan Uwe Fitz, sondern auch bei Poetenkollegen wie Florian Meimberg. Seine @tiny-tales begeistern mit absurd-poetischen Kurzgeschichten, der Art: „Das Wurmloch spuckte die Kapsel aus wie einen Kirschkern. Der Zeitsprung war geglückt. Über Bethlehem trat das Shuttle in die Atmosphäre ein.“ (Heiligabend). Inzwischen sind sie auch als Buch erschienen, mit einem Vorwort von Sascha Lobo. Der Verlag eriginals berlin produziert ausschließlich E-Books (als „eriginals“ bezeichnet man in den USA und in Großbritannien elektronische Originalausgaben) und hat heute schon mehrere solcher Twitter-Bücher im Programm, darunter auch „Geständnisse einer Nichtgeradesuperheldin“ von Anke Fitz (hier ihr Blog). „An den Fitzens ist übrigens noch etwas gutzumachen“, sagt eriginals-Verlegerin Christiane Frohmann über Jan-Uwe und Anke, „die wurden vor einiger Zeit in einem Artikel mal als öffentliche Twitterbeziehung dargestellt, was ihnen überhaupt nicht gerecht wird, denn sie sind sehr dezente Menschen. Wenn sie öffentlich etwas scheinbar Privates äußern, ist es entweder ironisch, wie im Vorwort von Anke Fitz‘ Erzählung ‚Der Kaugummi unter dem Schuh des Lebens’, in dem ihr Mann schreibt: ‚Wenn ich wissen möchte, was meine Frau wirklich bewegt, lese ich natürlich nicht ihre Interneteinträge, sondern frage sie persönlich. Dann antwortet sie bereitwillig: »Lies meine Interneteinträge«.’
Die Berlinerin Anousch Müller verspricht „beflügelte Worte“ in ihrem Twitter-E-Book „Bescheiden, aber auch ein bisschen göttlich“, mit Sätzen wie: „Meine Herzkammer ist ein Elendsquartier“, oder dem Aufruf „Wild at Hartz“. Um solche „Twitteratur“ kümmert sich die Literaturwissenschaft selbstverständlich auch schon. Im April 2013 wird eine internationale Tagung unter dem Titel „Kleine Form – Medium der Kulturanalyse“ an der Universität Paderborn stattfinden. Es wird weit ausgeholt, bis zu Franz Kafkas „Betrachtungen“, um dann bei modernen und postmodernen „Schreibweisen“ anzukommen. Auch Christiane Frohmann ist Literaturwissenschaftlerin und mittlerweile so fasziniert von den im Netz auftauchenden neuen Formen, dass sie diese zukünftig zum Schwerpunkt ihrer verlegerischen Arbeit machen will. Am 18.7. wird sie beim literarischen Salon im Berliner Club KaterHolzig den Frohmann Verlag und erste Twitteraturtitel präsentieren, darunter einen Serienkillerkurzroman von Jan-Uwe Fitz. Auf seinen Lesungen trägt Jan-Uwe Fitz Tweets als „ellenlange Dialoge am Stück“ vor, die er vorher „scheibchenweise twittert. Und die aus dem Zusammenhang gerissen, nicht immer Sinn machen.“ In diesem offenherzigen Satz liegen Tragik und Ironie der neuen Form – wenn Twitterer von Epen träumen.