Mit den „ShortStoryShorts“ habe ich vor einem Monat hier auf LesenMitLinks eine neue Reihe eröffnet. Romane, Erzählungen, Lyrik etc – das alles wird umfangreich besprochen. Die einzelne Short Story geht aber oft im Sammelband unter. Das hier ist kein germanistisches Close-Reading-Projekt, sondern eine Entdeckungsmaschine. Ich stelle vergriffene und bombastisch erfolgreiche Gegenwartsgeschichten vor, einzelne Short Storys aus Literaturzeitschriften (anstatt die ganze Ausgabe zu besprechen oder um sie eben dadurch zu würdigen), bediene mich an dem großen Pool von 1LIVE Shortstory (für die ich ständig auf der Suche nach Geschichten bin, veröffentlichten, unveröffentlichten…) Heute geht es um den magischen Realismus von Lucy Wood, um den Wahnsinn bei Deborah Levy und um die Figur des Mittlers bei Goethe und (zweihundert Jahre später) bei Serhij Zhadan.
Dass Magie und Wirklichkeit in der Literatur plausibel zusammenkommen können zeigt Lucy Wood in ihrem 2013 erschienenen Kurzgeschichtenband „Der Friedhof der Riesen“ (Berlin Verlag, übersetzt von Ingo Herzke, 272 Seiten, 18,99 Euro). So präsentiert sie eine Story aus dem verwunschenen „Blue Moon“-Heim, in dem Menschen betreut werden, die sich in Tiere, in Gegenstände, in Blut oder Öl verwandeln können, in dem manche Pflegerinnen stets aufs Neue entsetzt sind, wenn sich beispielsweise die ansonsten unauffällige Mrs. Tivoli in eine Katze verwandelt: „Sie rollte die Augen und stieß einen spitzen Schrei aus, der ins Zimmer schnitt und mir kalte Wellen über die Haut laufen ließ.“ Was in den X-Men-Comics als großer Spass daherkommt, ist hier überaus verstörend, dieses Einbrechen phantastischer Elemente in das, was gemeinhin für „die Realität“ gehalten wird. Eben Gleiches passiert in „Steine ohne Zahl“, eine Geschichte, die zunächst gewöhnlich einsteigt: „Rita spürte es in den Zehen; bei ihr waren es immer zuerst die Zehen. Sie wurden schwerer, sie schmerzten, wenn sie sich nach ihnen bückte, fühlten sich kälter und härter an als sonst.“ Die 36-jährige Burgerbraterin, die den Schnellrestaurant-Geruch nach altem Brot und Zwiebeln nicht mehr los wird, verwandelt sich, das hebt sie aus der
Gewöhnlichkeit heraus, von Zeit zu Zeit in leblosen Stein. „Es ging langsam, aber doch schnell genug, dass sie es spüren konnte, wenn sie sich darauf konzentrierte: wie sich jede Hautschicht zusammenzog und versteinerte, von innen nach außen, eine Art Anspannung, ein Schmerz, ein Klacken, wenn Stein auf Stein gesetzt wurde, als würde jemand in ihrem Innern ein Haus errichten.“ Diese Metamorphose findet langsam statt, über mehrere Stunden gedehnt, so auch an diesem Tag, als Rita trotz Steinwerdung (in ihr) und Schneetreiben (draußen) beschließt, mit Ex-Freund Danny ein Haus zu besichtigen, ein wenig Lebendigkeit spüren, bevor sie erneut für eine Weile außer Gefecht gesetzt ist. Es ist eine rätselhafte Szenerie, eine nicht aufgelöste (Stimmungs-)Schwankung, die dem Bizarren glaubhaft viel Raum gibt.
Mit einem Mix aus Jesus Christus 2.0, „Mad Men“ und „Einer flog über das Kuckucksnest“ erzählt die südafrikanische Autorin Deborah Levy in ihrere Short Story „Sternenstaub“ (aus dem an „Ja Rule“ erinnernden Band: „Black Vodka“, 2014 bei Wagenbach erschienen, übersetzt von Barbara Schaden) von einer fatalen Co-Abhängigkeit. Der alkoholkranke Werbeagenturchef Thomas erfährt hier, wie seine persönliche Vergangenheit zu traumatischen Ausbrüchen bei einem anderen Menschen führen kann. Thomas, aufgezogen von der holländischen Hauslehrerin, einst verprügelt vom eigenen Vater, bekommt um zwei Uhr nachts einen Anruf. Sein Freund und Kollege Nick meldet sich von einem lärmenden Strand in Südspanien und weint „Wort- und Bilderfetzen“ in Thomas’ Ohr. Er glaubt: „Wir sind Sternenstaub.“ Er glaubt ebenfalls: vom Mond aus anzurufen. Klar ist: Hier findet eine Projektion statt. Nick berichtet von Misslandungen in seiner Kindheit, die ihn angeblich (weiterhin) quälen – er verwickelt sich in Widersprüche, spricht die wirre Sprache des Wahnsinnigen, dessen Diskurs nicht gefolgt werden kann. – Tage später, wieder daheim, bricht Nick zusammen, als in der Agentur über das Shampoo „Wiesenmilch“ gesprochen wird.
Denn: „Meine holländische Lehrerin machte mir immer einen Pudding aus Milch, wenn mein Vater mich verprügelt.“ Thomas’ Erinnerung, seine Konfusion angesicht des Wahnsinns und Nicks Krankheit erscheinen in Levys Story zersplittert auf. Irgednwann wird Nick mit einem Nervenzusammenbruch in die Psychiatrie eingewiesen. Die Diagnose: Der hochempathische Werbemann durchleidet die Schmerzen seiner Mitmenschen, spürt ihre seelischen Wunden wie seine eigenen und kann nicht mehr unterscheiden zwischen Wirklichkeit und fürchterlicher Phantasie. Was sein tatsächlich misshandelter Chef mit Macht und Alkohol erfolgreich verdrängte, bricht nun in eine andere Realität ein. „Sternenstaub“ – eine Story für Freunde von Lacan, Foucault, für Menschen, die das Verschwiegene umzutreiben weiß. – Deborah Levy, 1959 in Südafrika geboren, lebt als Autorin in London. Nach einigen Prosaarbeiten schrieb sie vor allem Drehbücher und Theaterstücke, die unter anderem von der Royal Shakespeare Company aufgeführt wurden.Ihr erstes Buch auf Deutsch „Heim schwimmen“ sorgte weltweit für Furore und war unter den Finalisten des Man Booker Prize 2012.
Zu den interessantesten Figuren der Literaturgeschichte gehört der Typus des so genannten „Mittlers“. Philipp W. Hildmann untersucht 2003 in seinem Aufsatz „Die Figur Mittler aus Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften als Repräsentant der Neologen“ (Euphorion, Bd. 97, 2003, Heft 1, S. 51-71). Er schreibt: „Noch zu Goethes Lebzeiten bezeichnet ihn etwa Karl Philipp Conz als ‚sonderbaren‘ Mittler, für August Wilhelm Rehberg ist er der ‚thätige Hr. Mitttler‘, und Karl August Böttiger spricht von einem ‚ganz originellen Mann‘ und klassifiziert ihn als ‚Seelenarzt‘.“ (51). Goethes Mittler, dieser ehemalige Geistliche, der im Trubel des Partnertausch-Plots die heilige Ehe hochhalten will, wird in der zeitgenössischen Bewertung zudem als Seelenarzt, Narr, selbstgefälliger Friedensritter, Katalysator und Verführer (vgl. S. 52) apostrophiert. Goethes Roman erschien 1809 in der Cottaschen Buchhandlung. Zweihundert Jahre später aktualisiert der ukranische Starautor Serhij Zhadan die Mittler-Figur und lässt sie in der Short Story „Die Territorialgewässer ihrer Badewanne“ (im Erzählband „Big Mäc“, Suhrkamp, übersetzt von Claudia Dathe) neu auftreten. Der Mittler ist hier ein junger Wiener, der die aus Jugoslawien hergezogene World-Music-Sängerin Anna-Maria in Liebesangelegenheiten
berät. „Anna-Maria sitzt in ihrer Badewanne,die bis zum Rand mit Wasser gefüllt ist, sie hat warmes Wasser einlaufen lassen, und jetzt sitzt sie, denkt nach, macht Wellen mit der Hand und lauscht dem Radio, das an einem Lederriemen direkt über dem dichten Schaum hängt; so macht sie es immer – sie steht gegen Mittag auf, lässt Wasser einlaufen und schwimmt wie eine Makrele, sogar das Telefon hat sie mit ins Bad geschleppt, es ist immer nass, teilt Stromschläge aus und sprüht Funken, mit Anna-Maria zu telefonieren macht keinen Spaß, andauernd flucht sie, schimpft sie, wenn ein Stromschlag sie erwischt, nur still ist sie nie.“ – Gerade ist Anna-Maria in den Computerfreak Alik aus Kiew verknallt, der aber beim Sex auf seltsame Weise stöhnt, in wenigen Augenblicken an der Tür klingeln will und dann auf den Mittler treffen wird. Der soll dafür sorgen, dass Anna-Maria und Alik miteinander über ihren Sex reden, was bereits ausreichend peinlich klingt. Doch die beiden frisch Verliebten haben einen Wunsch: Das Gespräch soll moderiert werden. – Goethe deconstructed at it’s best.