Dem Gelsenkirchener Großhändler Kai Twilfer ist der Überraschungserfolg des aktuellen Bücherjahres gelungen. Im „Köln 50667“-Stil erzählt er „aus dem Alltag eines unerschrockenen Sozialarbeiters.
Es gab eine Zeit, in der sind Leute wie Claude Lévi-Strauss ins Amazonasgebiet gereist, um fremde Stämme zu beobachten. Später gab es dann noch den Bauernsohn Pierre Bourdieu, der in seinem Werk „Die feinen Unterschiede“ genau analysiert, auf welche Weise Angehörige von Unter-, Ober- und Mittelschicht so simple Dinge wie Messer und Gabel benutzen. Inzwischen ist dieses Genre in der Scripted Reality gelandet und was der WDR vor 24 Jahren mit den prollig-sympathischen „Die Fussbroichs“ begann, endet nun mit Supernanny-Katastrophen, Schuldenfallen und Messieberatungen im TV. – Diese Lust, Menschen eher einfacher Bildungs- und Beschäftigungsverhältnisse (abgebrochener Schulabschluss, Hartz IV) anzusehen, sich mit ihnen abzugleichen, ist ein Trend im aktuellen Entertainmentsektor, den Kai Twilfers „Schantall, tu ma die Omma winken“ ironisch bedient. In seinem fiktiven Erlebnisbericht landet der städtische Kulturfunktionär Jochen im Rahmen eines Austauschprogramms bei Familie Pröllmann.
Mutter Hildegard, „Boahpapa“ Günther, 3er-BMW-Sohn Jason und die 24-jährige, alleinerziehende Tochter „Schantall“ nebst Kleinkind „Tschastin“ sollen vor dem endgültigen Absturz bewahrt werden. Jochen ist somit Sozialarbeiter auf Zeit und greift den Pröllmanns ein Jahr lang unter die Arme. Für den 44-jährigen Familienvater wird es ein ethnologischer Trip, der kaum befremdlicher sein kann als die Amazonasreisen von Claude Lévi-Strauss in den 1930er Jahren. Denn auch Jochen wird mit neuen Lebenseinstellungen, neuen Werten und Vokabeln vertraut gemacht.
Jochen nähert sich den Pröllmanns mit größtmöglicher Zuwendung. Doch gelingt es ihm nur selten, eine professionelle Distanz zu wahren. Kopfschüttelnd begleitet er Schantall und ihre Freundinnen Kimberly und Cheyenne in dröhnende Glitzermodeläden, zum Komasaufen mit dem Reisebus nach Lloret de Mar, ins Zuckerwattereich der Proletenkirmes, wo voll gefressene, betrunkene Jünglinge vom Achterbahnlooping auf die wartenden Menschen kotzen. Hauptsache: Fun. Er begleitet Schantall zu ihrem schnell missglückten Friseurinnenpraktikum, wohnt Kartoffelsalatfeten im trashigen Hochhaus bei und steht ihrem mehrmaligen Beinahe-Aufstieg ins C-Promi-Gewerbe bei. Am Ende dieses Buchs kann man den exotischen Menschenstamm der Pröllmanns einwandfrei klassifizieren, weil Jochen exakt beobachtet und notiert: Die Wischtechnik- Nußbaumfurnierkombination in Pröllmanns Wohnzimmer, die rudimentäre Ruhrpott-Kommunikation zwischen Schantall und ihren Freundinnen („Boah, Cheyenne! Kannse vielleicht ma den River-Cola anne Seite nehmen, damit ich den Tschstin ma von Gurt machen kann?“), aber auch die eher rustikalen Sexualerlebnisse des Prollnachwuchs.
Am Ende steht eher fadenscheinig die Vermutung, dass Pröllmanns Wesen in uns allen wohnt, mal mehr, mal weniger ausgeprägt. Vielleicht ist es aber auch nur ein Wunschdenken. Denn trotz Hartz IV und Extensions muss man festhalten, dass diese Chicks und Kerle einfach „Fun“ haben im Leben, frei nach dem Motto: „Was haben Sie denn nach Ihrem Schulabbruch bisher beruflich schon so gemacht, Frau Pröllmann?“ – „Na, wat so ging. Sonnenbänke im Studio desifieziert. Anne Mandelbude Tüten voll gemacht und Komparsin in Lloret.“
Kai Twilfer: „Schantall, tu ma die Omma winken“, Schwarzkopf & Schwarzkopf, 228 Seiten, 9,95 Euro