Dann begann der Roman mit einer Schusswunde: In „Sickster“ von Thomas Melle treffen ein schizophrener Loser und „ein Macher, ein Tunichtgut, ein Duellant“ aufeinander – bis erst einer weint. Dann alle.
„Occupy Wall Street!“ rufen aktuell die Kapitalismuskritiker. Doch was passiert, wenn die Wall Street mit ihrem geldgetriebenem Wesen die Menschen okkupiert? Hätte es diesen Unfall am Abitag nicht gegeben, würden in „Sickster“ zwei Kraft strotzende Alphatiere gegeneinander kämpfen. Doch weil sich ein Schreckschuss neben dem Ohr von Magnus Taue löste, ist der Mann seit der Feier in Bonn angeschlagen. Tinnitus, schizophrene Anfälle. Großes Theater. Jahre später wird er nicht allzu weit gekommen sein – lediglich in die PR-Abteilung eines Ölkonzerns. Magnus schreibt fürs Hausmagazin „Wellcome“. Sein Leben befindet sich im ewigen Stand-By. Und dann betritt ein Gegenspieler die Business-Bühne: Thorsten Kühnemund, Manager, Großmaul, Säufer, Weiberheld – ein früherer Schulkamerad von Magus. Doch von Freundschaft (erstmal) keine Spur.
Der schwerhörige Magnus mit dem Rauschen im Kopf macht sich pausenlos Gedanken: „Ein Unternehmen, das wie ein Raumschiff strahlt, ist auch ein uraltes Insekt.“ Thorsten dagegen baut mit großer Geste „Planogramme“, über die Magnus später schreiben muss. Thorsten gehört zu den Coolen, nennt sich „Sexmaniac“. Magnus dagegen pflegt lediglich Freundschaften zu süßen Girls, die „LSD sind für den idyllischen Flügel im Hirn“, bildhübsch im Gesicht, „der Körper eine Wohltat für pornomüde Augen.“ Magnus ist „einer jener Menschen, die sich von der Außenwelt ständig bedrängt fühlen.“ In Firmen-Sitzgruppen wird er nervös. Beides arme Hipster, irgendwie krank (engl.: „sick“), nur noch schlimmer: „Sickster“.
Doch Thomas‘ Leben hat eine Schattenseite. Seine Partnerin Laura, eine überforderte Karrierejuristin, kommt mit ihm und mit ihrem eigenen Leben kein bisschen klar. „Ich hätte nicht übel Lust, mich zu schneiden. Aber diesmal kein Pipifax und Kinderquatsch mit Michael mehr, sondern richtig, nicht nur die Wunde auffrischen, sondern den ganzen Arm versehren, oder die Beine.“ Er wird Laura im Laufe des Romans beinahe verlieren. Sie ist zu empfindsam für diese Welt. Zwei Typen, eine Frau. Klar, dass sich Magnus irgendwann in Thorstens Frau verknallt. Das wiederum hört sich schwer nach dem Ü50-Fernsehfilm der Woche an. Doch Thomas Melle lässt seine Figuren nicht plump aufeinanderprallen. Er zeigt Magnus und Thorsten abwechselnd in Solo-Szenen, jeder für sich, wie sie ihr einsames Leben verbringen, innerlich leer. Nur aus unterschiedlichen Gründen. Männer bei der Arbeit. Das kann kreuzöde sein. In „Sickster“ ist es pointiert beobachtet, ironisch gebrochen, wie ein „Jump ’n‘ Run“-Spiel als Literatur. Auch unterhaltsam, klar.
Diese parallel aneinander vorbeilaufenden Männerhandlungen machen die Spannung von „Sickster“ aus, deshalb zerreisst die Story beinahe, weil es so große An- und Abstoßungskräfte gibt. Diese Konstellation, zwei Hauptfiguren werden abwechselnd gezeigt, doch sie berühren sich kaum, beherrschen nur die Allerbesten. Dazu gehört Regisseur Michael Mann im Kinoblockbuster „Heat“, wenn Al Pacino und Robert De Niro nur einmal im Dialog aufeinandertreffen, sich in den übrigen zweieinhalb Stunden lediglich belagern, beschatten, beäugen und umkreisen wie misstrauische Raubtiere im Zoogehege. Der eine könnte ein Held sein. Der andere ist ein Held geworden. Magnus, der Name stammt aus Skandinavien, heisst „Der Große“ und Thorsten, ebenfalls aus dem ewigen Eis kommend, steht für „Thors Hammer“, nach der furchterregenden Waffe des germanischen Donnergotts (Fans der Marvel-Comicverfilmung „Thor“ werden sich an diesen Hammer mit dem bizarren Namen „Mjölnir“ erinnern). Doch Held und Loser hin oder her; irgendwann gibt es einen Showdown, der Außergewöhnlich ist. Wie so vieles, in diesem außergewöhnlichen Buch, mit seinen außergewöhnlichen Beobachtungen, Fragen, zum Beispiel hier: „Kennen die, die ich vom Sehen kenne, mich auch vom Sehen?“
Thomas Melle: „Sickster“, Rowohlt, 336 Seiten, 19,95 Euro / E-Book 16,99 Euro / Taschenbuch 9,99 Euro