Sich selbst erschießen. In einer ewigen Zeitschleife mit der Lieblings-Ex steckenbleiben. Alternative Enden privater Katastrophen wahr werden lassen. All das gelingt in der Science Fiction-Welt von Charles Yu. Sein „Handbuch für Zeitreisende“ ist eine Jagd über verschiedenen Zeitebenen, unterschiedliche Genres, bestückt mit halb fertigen Helden, paradoxen Plots und depressiven Sexbots – gelistet in den „Time’s Top 10 Fiction Books 2010“.
Bevor Dietrich Schwanitz mit seinem Roman „Der Campus“ das akademische Feld verliess, schrieb er 1990 das sehr lesbare Buch „Systemtheorie und Literatur: Ein neues Paradigma“. Darin bemerkt er, dass Krimis einer erzähltheoretischen Besonderheit unterliegen. Detektiv und Text arbeiten gegeneinander. Während der Ermittler auf der „erzählten Ebene“ bestrebt ist, seinen Fall zügig zu lösen, muss auf der Erzählebene möglichst lange Unsicherheit über den Täter herrschen. Aus diesen gegenläufigen Anforderung ergibt sich das eigentliche Spannungsfeld einer Kriminalgeschichte.
Der Anglistikprofessor aus Westfalen hat keine Neuigkeiten ausgeplaudert. Dennoch ist sein Beispiel von bemerkenswerter Klarheit. Es richtet das Augenmerk auf den Gegensatz von „discours“ und „historie“, der Darstellung eines Stoffes und seines tatsächlichen Verlaufs (der Täter steht fest mit der Tat, wird auf discours-Ebene aber erst mit Ende der Kriminalgeschichte verbunden). Mit diesen und etlichen anderen postmodernen Kniffen arbeitet das „Handbuch für Zeitreisende“ vom amerikanischen Hype-Autor Charles Yu. Seine Geschichte wirkt wie angewandte Literaturwissenschaft – von Juri M. Lotman über Gerard Genette bis Jean Baudrillard. Angelehnt an Jean Baudrillards Simulakrum-Theorie werden in diesem sehr klugen Buch discours und histoire in einen besonderes Widerstreit geschickt.
Die Handlung spielt in einer „second order reality“. Sie hat Ähnlichkeit mit der Realität des Lesers, ist aber, ein sekundäres, semiotisches, modellbildendes System von Welt (um Lotman gleich mal ins Spiel zu bringen). Der Held heisst wie sein Autor. Auch das ist selbstverständlich eine Reminiszenz an unzählbare Romane der Postmoderne. Seit er sein „Masterstudium in angewandter Science Fiction“ abgeschlossen hat, repariert der Held Charles Yu Zeitmaschinen (der Autor Charles Yu hat nicht in „Science Fiction abgeschlossen, sondern arbeitet als Vollzeitjurist – lernt also, mit verschiedenen, konstruierten Wahrheiten umzugehen). Jedenfalls: Der Held Charls Yu versteht aufgrund seiner akademischen Ausbildung, wie Zeit „funktioniert“. Er weiß, wie chaotische Ereignisse in einer zeitlichen Reihenfolge linear geordnet werden können – hier schlug ich kurz in „Die Schrift“ von Vilém Flusser nach: „Beim Schreiben sollen Gedanken zu Zeilen ausgerichtet werden. Denn ungeschrieben und sich selbst überlassen laufen sie in Kreisen. Dieses Kreisen der Gedanken, wobei jeder Gedanken zum vorangegangenen zurückgehen kann, nennt man in spezifischen Kontexten das mythische Denken. Schriftzeichen sind Anführungszeichen aus dem mythischen in ein linear ausgerichtetes Denken.“
Der Vater von Charles Yu (dem Helden) hat das Prinzip von Zeitreisen entworfen, ist aber irgendwann verschwunden, steckt vielleicht in einem anderen sekundären, semiotischen, modellbildenden System von Welt fest. Seinen Sohn ist also allein in der fiktiven Geschichtenwelt, die da heisst „Das Handbuch der Zeitreisenden“, zurückgelassen worden. Diese Welt setzt sich zusammen aus verschiedenen Universen, die wiederum bevölkert werden von Genres, schwachen und starken Helden, deren Zeitläufte bestimmt sind durch plausible oder unplausibe Plots – je nachdem, wie fähig die Ingenieure (bzw. Autoren) eines jeweiligen Universums gearbeitet haben.
Zu Beginn informiert der Text, dass sich Charles Yu selbst erschossen hat, genauer eine zukünftige Version seiner selbst, einen Klon sozusagen, der ihn mithilfe einer Zeitmaschine aufgesucht hat – jener Zeitmaschine, die Charles Yu aktuell mit einem melodramatischem Programm und einem ontologisch existenten aber dennoch bloss erfundenen Hund bewohnt. Das Paradoxon entsteht also durch den Widerstreit zwischen discours und histoire, ein Dilemma – wie zum Beispiel von Baudrillard in „Der unmögliche Tausch“ beschrieben durch die Simulation des Individuums, das sich aus Selbsthass bzw. Überlebenswille erschiesst (beide Möglichkeiten sind zugleich denkbar).
Doch warum besucht sich der Held, der heisst wie sein Autor, mit einer Zeitmaschine selbst in einer zeitlich einerseits fortlaufenden, auf erzählter Ebene aber ständiger Wiederholung unterworfenen Geschichte? Der Grund: Charles Yu steckt in einer Zeitschleife, wie einst Phil Connors (Bill Murray) im Kinofilm „Groundhog Day“ (1993). „Als es passiert, passiert dies: Ich erschieße mich. Nicht mich selbst, natürlich. Ich erschieße mein zukünftiges Ich. Es steigt aus einer Zeitmaschine und sagt, es sei Charles Yu. Was sollte ich sonst tun? Ich töte es. Ich töte meine eigene Zukunft.“
So beginnt das „Handbuch für Zeitreisende“, so beginnt das Dilemma, das Paradoxen, das Problem des Subjekts. Bereits in diesen Anfangssätzen problematisiert Charles Yu, den Gegensatz zwischen Innen- und Außensicht des Individuums, das in seinem Spiegelbild „das Andere“ erkennt, obwohl wir es gewohnt sind, unsere vergangene und unsere zukünftige Person als die ewig gleiche anzusehen (andererseits behaupten wir auch, uns ändern zu können). Dazu steckt ein zeitlicher Widerspruch in der Satzreihenfolge. Denn Vergangenheit („als es passiert“, „was sollte ich sonst tun“), Gegenwart („ich erschieße mich“) und „ich töte meine eigene Zukunft“ gerate durcheinander. Zumal sich das Ich erst selbst erschießt, dann aufklärt, es sei erschieße lediglich ein „anderes Ich“, das im „discours“ nach seiner Erschießung aus der Zeitmaschine steigt.
Das alles hindert Charles Yu nicht, eine sinnvolle aventuire durch das Romangebildet durchzumachen, als der Einzige der nicht – wie seine Kunden, in logische und metaphysische Schwierigkeiten gerät. Er hat das Dilemma seiner, vielleicht sogar der Existenz an sich erkannt: „Die meisten Leute, die ich kenne, leben vorwärts und schauen dabei die ganze Zeit zurück.“ Sie machen aus ihrem Leben eine Geschichte. Andererseits funktioniert das Erzählen genau so – die Seiten voller Text füllen sich, man blättert nach vorn, während nach-erzählt wird, was geschehen ist. „Woher wissen wir, was es bedeutet, ein Ereignis als gegenwärtiges Geschehen wahrzunehmen und nicht als Erinnerung an ein vergangenes Ereignis?“
Charles Yu hat eine Begründung parat, die wirkt wie eine Persiflage auf die Evolutionssoziologie unserer Zeit: „Vielleicht liegt das in den Notwendigkeiten des Überlebenskampfes begründet. Damit wir Nahrung beschaffen, dem Säbelzahntiger entkommen, über spitze Steine in einen Fluss mit starker Strömung springen und für unseren schreienden Säugling sorgen können, müssen wir uns konzentrieren, müssen wir wissen, was jetzt vor sich geht. Das heisst, unsere physische Fähigkeit, die zeit zu erfassen, ist von evolutionären Zwängen in jeder Hinsicht auf die Selektion fürs Überleben nützlicher Merkmale zurechtgeschliffen worden. Die Zeitwahrnehmung ist da keine Ausnahme und kein Sonderfall, und sie hat nichts Magisches und Mysteriöses.“
Vilém Flusser würde Charles Yu zustimmen – also: beiden, er hat es längst getan. „Das Englische to write (das zwar, wie das lateinische scribere, auch ritzen bedeutet) erinnert daran, daß ritzen und reißen dem gleichen Stamm entspringen. Der ritzende Stilus ist ein Reißzahn, und wer Inschriften schreibt, ist ein reißender Tiger: Er zerfetzt Bilder. Inschriften sind zerfetzte, zerrissene Bildkadaver, es sind Bilder, die dem mörderischen Reißzahn des Schreibens zum Opfer wurden.“ Großartiges Buch, konstruiert aus 50 Jahren Kommunikationstheorie, Schriftwissenschaft, Hologrammen, Figuren, die ihr eigenes Buch schreiben, Paradoxa und Tigern, Buddhisten, Wahnsinnigen, Realitätsverleugnern, Zeit-Zauberern und: Sexbots (die allerdings noch trostloser daherkommen, als es das Wort Sexbots schon vermuten lässt.
Charles Yu: „Handbuch für Zeitreisende“, übersetzt von Peter Robert, Rowohlt, 272 Seiten, 13,95 Euro