„Wer ihn sah, verstummte.“ Colum McCanns neuer Roman “Die grosse Welt“ beginnt ganz weit oben mit Philippe Petit, der am 7. August 1974 auf einem Drahtseil zwischen den gerade errichteten Zwillingstürmen in New York balanciert. Es gibt eine Fotografie dieses Vormittags: Dieser mutige Mann tastet sich mit einer langen Stange vom einen Dach zum anderen, während ein Passagierflugzeug über ihm die Szenerie passiert.
Hier berühren sich die beiden prägendsten Ereignisse dieses symbolischen Gebäudes, der kunstvolle Beginn und das schreckliche Ende am 9. September 2001. Und wie Philippe Petit von Turm zu Turm wandert, balanciert McCann zwischen 1974 und 2001, erzählt in großartig verwobenen Geschichten von einem heroinsüchtigen Ordensmitglied, der aus Irland nach New York geflogen ist, um mit den Ärmsten der Armen zu leben – und ihren “Tisch“ zu teilen, McCann erzählt von trauernden Müttern, die ihre Söhne in Vietnam verloren haben, von zwei Huren, Mutter und Tochter, die niemals einen erhabenen Moment wie Philippe Petit erleben werden in dieser großen, weiten Welt. Ich traf den Autor in Köln.
Wie erinnern Sie sich den 11. September 2001? Ich arbeitete gerade an meinem Schreibtisch, als ich Sirenen hörte. Ich lebe in der Nähe eines Krankenhauses, also war das erst einmal keine große Sache. Als ich aufstand, um mir einen Kaffee zu holen, sah ich, dass der Anrufbeantworter blinkte. Ich hörte die Nachricht ab und es war meine Schwester aus London, die hysterisch fragte, ob ich ok sei. Natürlich bin ich ok, sagte ich, was ist denn los? Und dann schaltete ich den Fernseher ein und ich sah die brennenden Gebäude. Ich wusste, dass mein Schwiegervater im ersten Turm war, und dann sahen wir zu wie sie einstürzten und wir konnten die Rauchwolken über der Stadt sehen. Er hat es noch raus geschafft, Gott sei Dank, und er lief zu uns hoch… Meine Tochter Isabella dachte, als er zu ihrem Apartment kam, dass er verbrannt sei. Aber er lebte. Das war so die Sache, die mich angetrieben hat. Ich wusste zu diesem Zeitpunkt, dass ich darüber schreiben müsste.
In Ihrem Roman beginnt die Geschichte der Twin Tower mit einem Kunststück – und wenn man Karlheinz Stockhausen zustimmen will, endet diese Geschichte auch mit einem „Kunststück“. So bezeichnete der Komponist jedenfalls den Terroranschlag. Würden Sie ihm Recht geben? Nein. Ich denke, es ist absichtlich provozierend. Die Funktion von Kunst ist es, Menschen dazu zu bekommen, etwas zu hinterfragen. Ich habe von dieser Erklärung gehört. In gewisser Weise verstehe ich genau, was er sagt, weil es hier um ein teuflisches Genie geht. Die Frage heisst also: Muss Kunst erlösend oder teuflisch sein? Ich glaube: Kunst ist nicht gut, wenn sie das Teuflische begehrt.
In Deutschland gibt es unter Schriftstellern den Wettbewerb um den besten Wenderoman. Gibt es in den USA einen Wettbewerb um den besten 9/11-Roman? Das hier sind nicht die Olympischen Spiele. Keiner muss die Goldmedaille gewinnen und ich denke, man reagiert gefühlsmäßig auf diese Anschläge. Man kann es aus einem dutzend, aus hundert, ja tausend verschiedenen Blickwinkeln betrachten. Ich warte auf den muslimischen Autor, der uns irgendwann einen ganz anderen Aspekt zeigen wird. In 100 Jahren werden fünf oder sechs Romane oder fünf oder sechs Filme herausgefiltert, die dieses Epoche kennzeichnen und die Gefühle und Zeit widerspiegeln, aber wer soll das bestimmen? Vielleicht schreibt ein japanischer oder chinesischer Autor den großen 9/11 Roman.
Warum haben Sie Ihre Geschichte in den 1970ern spielen lassen? Es war so was wie das Ende der Epoche der Unschuld. Ehrlich gesagt: Der einzige Grund, warum ich die 70er gewählt habe, war, dass Petite seinen Hochseilakt gemacht hat und wenn er es in den 80ern gemacht hätte, dann wäre es ein Roman in den 80ern gewesen. Dennoch: die ersten E-Mails wurden in den 70ern verschickt, das Internet wurde gerade entwickelt, Nixon war gerade dabei abzudanken. Da gab es ähnliche Glaubensfragen wie heute.
„Die grosse Welt“ als Spiegel unserer Zeit? Klar. So kann man es interpretieren. Ich schreibe zum Beispiel über die ersten Computerhacker. Bill Gates, einer der reichsten Männer der Welt, der war mit 16 ein Hacker mit einer „blue box“, mit der man „phone freaking“ machen konnte. Dabei wählst du dich in ein Telefon ein, benutzt eine Serie von Pfeifen auf verschiedenen Höhen und… yeah, es ist im Buch… und sowas baut dann die Brücke zwischen dem Damals und dem Jetzt.
Warum sind Sie aus Irland in die USA gezogen? Ich war ein neugieriger 21-Jähriger, der für `ne Zeit einmal raus kommen wollte und ich wollte eine „sorgenlose“ Reise machen. Ich fuhr mit dem Fahrrad durch die USA, ich lebte in Japan, wie bereits andere irische Autoren in der Vergangenheit. Sicherlich, wenn du über Joyce und Beckett redest, musst du bedenken, dass sie aus bestimmten Gründen gegangen sind. Sie befanden sich in gewisser Weise in einem selbst erzwungenen Exil, wegen der katholischen Kirche oder sie sind vor der Vergangenheit weggezogen, um darüber schreiben zu können. Ich bin tatsächlich nur deshalb gegangen, weil ich neugierig war.
Colum McCann: “Die große Welt“, übersetzt von Dirk van Gunsteren, Rowohlt, 540 Seiten, 19,90 Euro / Das Beitragsbild ist von Wikipedia