Ein Held, der sich selbst bei der Geburt zusieht. Kamera- und Comicbilder, Sex in Tierkostümen, ein Leben im Schnelldurchlauf, Mörderclowns und verweste Teddys: Thomas von Steinaecker zieht in seinem „Geister“-Roman alle Register.
„Simultan zum Gitarrensolo aus dem Fernseher bewegt Jürgen seine Hand mit dem Plektrum auf den imaginären Seiten auf und ab, die linke Hand greift am imaginären Hals die Akkorde.“ Jürgen ist der Held in Thomas von Steinaeckers neuem Buch, und der gerade zitierte Satz beschreibt kunstvoll, worum es in „Geister“ geht. Da steht der inzwischen gealterte Masseur und Akupunkturspezialist in seinem Zimmer, spielt Luftgitarre, als Kopie eines Fernsehbildes, als Kopie einer Inszenierung, und alles ist erfunden, auf jeder der drei Ebenen: Die Geschichte (vom Autor), die Fernsehbilder (vom Kameramann), die Gitarre (von Jürgen).
Jürgen wird anfangs geboren, ganz konventionell. Das ist ein alter Schriftstellertrick, mit einem Beginn zu beginnen: „Das Gesicht seiner Mutter ist schmerzverzerrt. Sie presst.“ Dann bricht das Bild. Scheinwerfer gehen an. Ein Regisseur tritt auf, choreographiert. Vier Seiten später wird erklärt. Jürgen sieht für einen Sekundenbruchteil seine verstorbene Schwester Ulrike an der Wiege stehen, noch so ein Trick: Der Tod, der einem Baby seine Hand reicht, als besiegele er einen Vertrag, der ein Leben gegen das spätere Sterben beinhaltet. In Ulrikes Fall hat irgendwer schlecht verhandelt. Das Mädchen stirbt bereits im „zarten“ Alter von sechs Jahren. Sie wird entführt, ermordet, an der Todesstelle im Wald liegt ihr Lieblingsteddy, der langsam vermodert, verwest, der auseinanderfallen würde, sobald man ihn anstupste.
Teddy, Tod und TV – das Leben von Jürgen ist anfangs ein Big-Brother-Film, der ihn aufs Gymnasium begleitet, wo er von allen wie ein Geist begafft wird, weiter ins Internat, zu Heavy-Metal-Abenden mit Kameraden, dann schnell geschnitten, seine Vaterschaft, die Ehe und die Einsamkeit noch später, bis er die Comiczeichnerin Cordula kennenlernt, in der Reha-Klinik, nach einer Massage. Cordula zeichnet ihr eigenes Leben, wobei unklar bleibt, ob sie es nachzeichnet oder vorausschaut, ob sie es verändern kann, mit Pinsel und Papier. Cordula will raus aus ihrem Comicfigurendasein. Sie will nicht mehr ihr Tagebuch ins Netz stellen, die vielen Bilder, die sich dann andere anschauen, um sich daraus wieder ganz neue Bilder zu basteln.
Ihr wahres Gesicht ist niemandem bekannt. Allein Jürgen weiß aus heiterem Himmel von ihr und wird gleich mit einer seltsamen Bitte konfrontiert. Er soll Cordula helfen, die früh beendete Geschichte seiner verstorbenen Schwester zu erzählen. Wieder gibt es einen Bruch. Zuerst werden Comics gezeigt, im Text, dann wird der Text selbst zum Comic, wenn Jürgen, wie neugeboren (!) aus dem Wasserbecken steigt: „Blubber! Dampf!“ Während sich die Kunststile vermischen, kommen Jürgen und Cordula zusammen und noch viel später werden sie Sex haben, in Tierstellung und Tierkostümen. Auf dem „Geister“-Cover gibt es dazu einen kleinen Vorgeschmack.
Das klingt alles ziemlich wirr. Es gibt einen Helden, der seine Schwester vermisst. Es gibt eine Zeichnerin, die ihr Leben vermisst, in der Realität und auf Papier. Ständig taucht ein Filmteam auf und erinnert, dass alles nur gespielt ist. Es gibt Verkleidungen: Jürgen im Mörderclownskostüm, Cordula als Comicfigur, die Tierkostüme beim Sex und so weiter. Alles ist unwahr und will etwas darstellen, was es eigentlich nicht ist, wie ein Geist. Dieses Buch ist ein wahnsinniger Strudel, ein Medienmix, eine Halluzination, als sei Thomas von Steinaecker traumatisiert, als müsse er wie im Fieber etwas abarbeiten, niederschreiben, zusammenkleben.
„Geister“ bietet eines der aufregendsten Leseerlebnisse, die aktuell auf dem deutschen Buchmarkt greifbar sind. „Es ist eine fremde, fremde Welt, in der er sich da gerade bewegt“, steht auf Seite 137 und man will nur nicken, nicken, nicken. Der Autor ist 31 Jahre alt. Im Buch wird er als Zeichnung dargestellt, er verschwimmt mit dem Text, als käme er selbst aus einem der Graphic Novels der begnadeten Illustratorin Daniela Kohl. Nach „Geister“ weiß man nicht, ob man sich freuen oder eher Angst haben soll wegen dieses Monstrums, das der Wahlmünchner hier geboren hat. Wozu ist Thomas von Steinaecker fähig, nach seinem mehrfach ausgezeichneten Debüt „Wallner beginnt zu fliegen“ und dem neuen Roman? Er stößt bereits an die Grenzen seiner Kunst, an die Grenzen der Literatur. Wann wird er sie überschreiten?
Thomas von Steinaecker: „Geister“ – mit Comics von Daniela Kohl, Frankfurter Verlagsanstalt, 210 Seiten, 19,80 Euro / Bild: Wikipedia
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