Die Schriftstellerin Heike Geißler hat im Weihnachtsgeschäft 2010 als Lagerhilfskraft bei Amazon angeheuert – und über diese Zeit das literarische Protokoll „Saisonarbeit“ veröffentlicht. Dieses 262-seitige Buch sorgt gerade für helle Aufregung, obwohl es eigentlich eine Nicht-Abrechnung ist, die jedoch befeuert wird durch Artikelüberschriften der Art: „Eine Einpackerin packt aus“. Und in der es dennoch hochnotpeinliche Einblicke in die Arbeitsweise des amerikanischen Internetkonzerns gibt. Was also macht dieses Buch interessant?
„Man wird hier übrigens mit Ihnen reden wie ich manchmal mit meinen Kindern, also ungefähr so: Aufstehen! Seid leise! Anziehen! Esst! Hinlegen! Augen zu! Schlaft! Jetzt hört aber mal auf!“ – Als Einpackerin hat Heike Geißler gerade eben nicht in der Leipziger Amazonstraße angeheuert (diese Straße gibt es tatsächlich, vergleichbar mit den zahlreichen Siemens- und Mercedesstraßen im Land), sondern als Receiverin. „Ware, die aus den LKW kommt, wird ins System gebucht“, erklärt die 37-Jährige auf Nachfrage. „Also: alles aus großen oder kleineren Kisten nehmen, von Paletten und den Barcode scannen, so dass die Ware ins System gebucht wird und bestellt werden kann. Danach geht sie ins Lager, wird von Leuten, die im Stow arbeiten, eingelagert und später von den Pickern rausgesucht.“ Einpacker arbeiten also am entgegengesetzten Ende der Lagerungskette.
„Ich habe bei Amazon angefangen, weil die die einzigen waren, die einen Vollzeitjob boten, mit dem ich halbwegs schnell eine Kontolücke füllen konnte“, sagt Heike Geißler. „Die anderen erreichbaren Jobs wären immer nur für ein paar Tage pro Woche gewesen, paar Stunden, paar Euro. Und ich fand es reizvoll. Ich dachte aber nicht daran, ein Buch darüber zum schreiben, das kam erst später. Notizen habe ich mir aber recht schnell gemacht. Als sie mich zum Testarbeiten einluden, habe ich mich sehr gefreut. Nicht zuletzt deshalb, weil ich gern wissen wollte, wie es hinter der Weboberfläche aussieht, wie das alles geht. und so weiter. Es wat unkritisches Interesse, Neugierde.“ Ihre Anstellung war also keineswegs journalistisch oder literarisch motiviert.
Doch was Heike Geißler dann erleben musste ließ sie recht zeitig Notizen machen. Das Stechuhr-Leben im Schichtbetrieb ist gewöhnungsbedrüftig, während man sich eigentlich nie daran gewöhnen kann: an das frühe Aufstehen, an Streits unter Kollegen, und daran, dass Vorarbeiter dazu neigen, ihre Untergebenen wie Kinder zu behandeln, allerdings wie Kinder, die nicht nachfragen dürfen. „Sie sagen: Aber wie sollen wir denn die Ware auf Beschädigungen prüfen, wenn wir sie gar nicht aus der Umverpackung nehmen, wenn wir nur eine Ware unter vielen ansehen und den Rest nur durchzählen. Norman wartet und verdreht die Augen. Frau Professor, sagt er, dann nimm sie eben raus.“
Duldsam schweigen. Eine Herausforderung für aufgeweckte Menschen, die wie Heike Geißler studiert haben, mehrere Sprachen sprechen, während der Arbeit an Heidegger-Schülerin Hannah Arendt, Literatur-Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek und die politische DDR-Schriftstellerin Helga M. Novak denken. Heike Geißler debütierte bereits 2002 mit ihrem Roman „Rosa“, der ausgezeichnet wurde mit dem renommierten Alfred-Döblin-Förderpreis. Es folgten Aufenthaltsstipendien, eine Teilnahme am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt, 2007 die zweite Veröffentlichung „Nichts, was tragisch wäre“. Schon zur Zeit von „Saisonarbeit“ arbeitet die Mutter zweier Söhne als gut gebuchte Übersetzerin und Schriftstellerin in Leipzig. Es ist die Biografie einer Intellektuellen, einer Frau, die Sätze schreibt wie: „Ein sich ins Kompakte trainiert habender Mann tritt ein, sagt nichts und geht gleich wieder. Nach wenigen Sekunden kommt er zurück, lehnt sich an den zwischen Leinwand und Stuhlreihen stehen- den Schreibtisch, verschränkt die Beine und die Arme. So steht er und blickt in die Runde. Er trägt gepflegte, sportliche Kleidung, vermutlich verströmt er Weichspülerduft, aber da können Sie sich auch täuschen.“
Poesie und Proletariat kommen hier zusammen. „Sie gehen aus dem Haus, eventuell sind Sie aufgeregt, denn Sie wollen den Job“, schreibt Heike Geißler, „Sie haben nun einmal kein Geld und lehnen es aus gewissen Gründen, die ich noch erklären werde, ab, Hartz IV, Wohngeld oder dergleichen zu beziehen. Sie bekommen Kindergeld für zwei Kinder, Sie bekommen auch Rechnungen bezahlt, aber leider werden Ihre Rechnungen meistens nicht pünktlich bezahlt. Es kommt erschwerend hinzu, dass Sie auch nicht gut darin sind, Rechnungen zu schreiben; Sie schieben das immer auf die lange Bank. Die Bank ist lang wie der längste Lebkuchen der Welt, also einen Kilometer. Auch schreiben Sie nie Mahnungen. Sie denken, dann gibt man Ihnen keinen Auftrag mehr.“
Es ist nicht schwierig, einen Job im Amazonlager zu bekommen. Man muss sich vorstellen und wird dann zur so genannten Testarbeit eingeladen. „Demonstrativ und deutlich heben Sie die Kisten der Regel entsprechend. Sie gehen tief in die Knie und stehen wieder auf, ohne den Rücken über Gebühr zu beugen.“ – Um die Distanz zwischen Protokollleser und Protokollantin zu überbrücken entschied sich Heike Geißler für eine direkte Ansprache. – „Ich hatte ‚Europa‘ von Lars von Trier gesehen. Danach war mir klar, das ich dieses ansprechbare, lenkbare Sie ebenso brauche. Ich habe versucht, auktorial und autoritär zu sein, aber immer höflich zu diesem Sie. Das ‚Ich‘ konnte ich jedenfalls nicht in dieser Ausführlichkeit verwenden. Das war zu dramatisch, zu sicher und beladen. Wie das Ich halt so ist.“
Also steht man als Leser selbst in dieser Halle, vertrödelt Zeit zwischen Warenbergen, räumt Palletten um, und muss mit ansehen, wie Kollege Uwe schikaniert wird, weil er verbotenerweise und für die Dauer weniger Sekunden ein Mobiltelefon mitgeführt hat (Filmen ist strengstens untersagt, wie im Berliner Technoclub „Berghain“). Die Strafe folgt im Plenum. Die Belegschaft steht beisammen. „Uwe wurde ermahnt und wird künftig darauf achten, kein Handy oder vergleichbare Gegenstände mit in die Halle zu bringen. Unterschrift. Das Schreiben geht nun herum, und die eigentlich überflüssige Frage lautet: Wo ist man denn hier? In einem anderen Jahrhundert? Wird man wie ein Schulanfänger gesehen, der noch an neue Regeln gewöhnt werden muss?“
Da lässt ein Konzern erwachsene Menschen Selbstbezichtigungen unterschreiben, wie man einen Schulbuben einst an die Tafel stellte, seine Verfehlungen dutzendfach zu notieren (was derart albern ist, dass es nur als Running-Gag bei den Simpsons taugt). Es ist eine Welt, die der deutschen Literatur allzu oft verschlossenen ist, die Welt der Werktätigen. „Saisonarbeit“, dieses ebenso poetische wie nüchternde Zeugnis einer entfremdeten Zeit schafft jene Aufhebung von Alltag und Broterwerb, die bereits 1959 im sogenannten „Bitterfelder Weg“ der DDR proklamiert wurde. Schriftsteller arbeiteten daraufhin in Betrieben und Arbeiter produzierten umgekehrt Laienkunst. Letztere wurde dann bei den jährlich stattfindenden „Arbeiterfestspielen der DDR“ präsentiert.
In der BRD wiederum gab es seit Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre Arbeiterliteratur von Vertretern wie den später durch das Kinderbuch „Vorstadtkrokodile“ bekannten Max von der Grün oder Hans Dieter Baroth, der Sohn eines Bergmanns war. Dazu kamen Interviewsammlungen wie Erika Runges „Bottroper Protokolle“, die auf Heike Geißler einen prägenden Eindruck hinterlassen haben: „Die Arbeiterreportagen aus den 70er Jahren schätze ich sehr. Ich mag Protokolle. Sehr sogar. Die Enthüllung als Textsorte liegt mir nicht. Nichts als Leserin, nicht als Schreibende.“
Dennoch haben große deutsche Verlage abgewunken, als die mehrfach prämierte Schriftstellerin Heike Geißler ihre Amazonprotokolle vorlegte. Den Zuschlag für diese brillante Studie über einen Megakonzern bekam einer der kleinsten und jüngsten Verlage des Landes; Spector Books aus Leipzig, die aufs Cover einen leeren Einkaufswagen gedruckt haben. Der Einkaufswagen wirkt wie ein Kunstobjekt, wie eine verfremdete Referenz auf vergangene Zeiten. – Inzwischen hat Amazon für 775 Millionen US-Dollar den Roboterhersteller Kiva Systems gekauft. Dann braucht es auch keine Lageristen mehr. Zwischen Produkt und Kunde stehen dann bloß Algorithmen und ein Poistzusteller, der ächzend Pakete mit Katzenstreu die Treppe hochwuchtet. Und im Tonfall der Erziehung spricht dann kein Vorarbeiter mehr, sondern nur die Mutter mit ihren Kindern, die lediglich kurz aufstehen muss, wenn es an der Tür klingelt.
Heike Geißler: „Saisonarbeit“, Spector Books, 262 Seiten, 14 Euro