Bevor Simona Rysers Roman „Maries Gespenster“ in den Läden stand, galt er bereits als ausgezeichnet: 2006 wurde das kurze Werk mit dem „Studer/Ganz-Preis“ für den besten unveröffentlichten Prosa-Erstling prämiert.
Es gibt keinen sprechenden Wolf, kein Rumpelstilzchen, keine Ritter oder Hofdamen, Schneewittchen hat nie gelebt. Maries Welt ist eine Märchenlandschaft, nur eben eine uns bislang unbekannte. Für die unnahbare Zeitungsjournalistin ist das moderne Leben schlichtweg fabelhaft. Bei ihr gibt es nämlich den sprechenden Wolf, einen Verehrer, der ihr dieses neumodische Handy schenken will, auf dass Marie stets erreichbar bleibe. Er will sie nicht fressen, aber küssen, das reicht. Rumpelstilzchen gibt es ebenfalls, weil die Frau manchmal Internetseiten programmiert, weil sie weiß, dass Rumpelstilzchen im Fachjargon Computerprogramme bezeichnet, „die im Hintergrund arbeiten“. Wenn die Musik im Wohnzimmer laut spielt, dann erinnert sich Marie an musizierende Burggesellschaften. Und an der Wand hängt eine schweigsame Spiegelscherbe, wie bei Schneewittchen, eine Hommage an den sprechenden Spiegel, an eine märchenhafte Zeit, als die Welt unkomplizierter, fantastischer, weniger verwirrend war.
Marie hat es nicht leicht gehabt: Ihre Mutter war lange krank, lag daheim im Bett, und als sie starb, war „sie zu leicht gewesen, als dass sich eine erwähnenswerte Vertiefung in der alten Matratze abgezeichnet hätte“. Die Abdrücke in Maries Herzen sind tiefer, schmerzhafter. Sterbende Mütter gibt es übrigens auch zuhauf in etlichen Märchen. Bei Simona Ryser folgt aber keine böse Stiefmutter, sondern nur die große, verwirrende, angstmachende Leere. Sie findet sich im Leben, ohne Mutter, ohne Halt, ziemlich schlecht zurecht. Marie vergisst den PIN-Code an der Supermarktkasse und als sie endlich eine Zeitungskolumne für den Sportteil bekommt, sagt sie leise zum Redakteur: „Aber ich verstehe den Sport doch nicht, können sie mir wenigstens eine Liste mit den verschiedenen Sportarten schicken?“ Das zerbrechliche, dumme, kleine Ding wirkt rührend, wenn Marie sich einen Spiegelzoo wünscht oder denkt: „Vielleicht leben wir hier im Dschungel, im Paradies, im Himmel.“ Ihr Leben ist trostlos. Doch Marie bleibt tapfer, 75 kurze Kapitel lang, bis zur letzen Seite: „Dann mischte Marie die Zahlen neu.“
Simona Ryser wurde 1969 in Zürich geboren. Sie studierte Philosophie und deutsche Literatur, verdiente ihr Geld als Verlagslektorin und Opernsängerin. Heute leitet sie die Musiktheatergruppe „szene und musik“. Sie arbeitet als Hörspielregisseurin, Sängerin, Journalistin und findet trotzdem Zeit für diese leise, zaghafte Geschichte, für zerbrechliche Worte, für dieses kleine Märchen. Ist es ein (Kunst-)Märchen? „Maries Gespenster“ leben jedenfalls in einer Märchenwelt, Marie lebt in einer Märchenwelt. Würde man das Mädchen in der Stadt treffen oder im Bus, wo sie wirres Zeug stammelt, man würde ihr nicht zuhören. Sie wirkt ziemlich irre. Genau deshalb ist Literatur wichtig, weil sie einen zwingt, für ein, zwei Stunden zuzuhören, weil man sich auf die vielen verschiedenen Leben da draußen einlassen muss, Leben, die im Alltag mit einem stumpfen Achselzucken ignoriert werden, fortgewischt werden. Simona Ryser gibt so einem Leben leise, ganz leise Worte.
Simona Ryser. „Maries Gespenster“, Limmat, 140 Seiten, 24,80 Euro