Viele Romane erzählen von DJs, Clubbesitzern und Partygängern – Mirco Buchwitz fügt dem Ensemble nun mit „Nachtleben“ einen Türsteher hinzu.
Auf dem Nachttisch von Richard und Ingrid, direkt neben dem Kinderbett, standen Anfang der 80er Jahre immer zwei Gläser, mit Krümelmonster und Kermit. Aber nicht zum Trinken – ihre alleinerziehende Mutter legte bei jeder Verfehlung eine Murmel ins Glas und wenn Krümelmonster oder Kermit angefüllt waren, wenn keine Murmel mehr ins Glas passte, setzte es eine Tracht Prügel. Selbst als ihr Freund Franz, Richard nennt ihn „den Stecher“, eines Tages mit einem kleinen Hund für die Kinder aufkreuzt, endet die Szene bestialisch. Denn schnell kommt es zum Streit zwischen Mutter und Franz. Franz rastet aus. Franz tritt den kleinen Hund, bis er leblos, blutend auf dem Boden verendet – und dann wendet er sich Richard zu.
Der unglückliche Held von Mirco Buchwitz‘ „Nachtleben“-Roman wächst in unbarmherziger Kälte auf und daher wundert es nicht, wenn sein Leben immer fatalere Wendungen erfährt: Ab seinem achten Lebensjahr wächst er im Kinderheim auf, schließt sich einer Gang an, klaut Himbeerjoghurts, lernt später viele andere Außenseiter beim Boxen, in Kneipen, beim Zivildienst im Altersheim kennen. Sein Alltag findet im Ausnahmezustand statt. Sein „Nachtleben“ meint keine schillernde Disco-Euphorie. Über seiner kompletten Existenz liegt Dunkelheit. Selbst sein Job als Security-Angestellter ist das Gegenteil von Sicherheit oder Angekommen-Sein. Denn als Club-Türsteher (Dealer hochnehmen, Ausländerquote niedrig halten) steht er weiterhin nicht mit den anderen Leuten zusammen, sondern ist aussen vor.
Das wird sich niemals ändern. Als er klein war, standen Polizisten vor der Wohnungstür, wenn die Prügelorgien in der Wohnung allzu offensichtlich nach draußen gedrungen waren. Als Erwachsene erinnern sich die Geschwister mit Sätzen der Art: „Mit meinen Pflegeeltern war das auch nicht immer einfach.“ In den Urlaub, für ein paar Tage, ging es früher nur, wenn Mama im roten Minirock schnell „was anschaffen“ war – als Hure, auf dem Strich. Mirco Buchwitz‘ Figuren sprechen eine fremde Sprache. Mädchen sagen ungeniert: „Also, wenn es ein Energy Drink wäre, würde ich es mir nicht kaufen, aber eklig finde ich Sperma nicht.“ Sie haben unsauber gestochene Tätowierungen auf dem Arm. Weihnachtsromantik besteht aus Johnny Cash und Tetrapak-Glühwein. Allein die geschundene Schwester Ingrid kriegt irgendwann die Kurve, wird Studentin und schreibt ihre Magisterarbeit über Literaturverfilmungen.
Aber das sind seltene Lichtblicke. Richard ist dieses Glück nicht vergönnt. Er erinnert das ganze Buch hindurch an Oliver Twist aus Charles Dickens‘ gleichnamigem Roman. Kaum scheint sein Leben Fahrt aufzunehmen, passiert ein Unglück und er fällt zurück in die Nacht. Dorthin, wo es kalt ist. Seiner Geschichte fehlt es an Wärme. Mirco Buchwitz beschreibt ein Dasein von den 80ern bis jetzt als Boxprüfung, als Sparring, als ständiger Überlebenskampf. „Nachtleben“ ist ein hartgesottenes Buch.
Mirco Buchwitz: „Nachtleben“, Aufbau, 336 Seiten, 17,99 Euro